Ein Glück, dass die Blase platzte!

Von Matthias Schüssler

Die «geplatzte Internetblase» ist seit gut einem Jahr eine stehende Redewendung. Eine nicht eben präzise Metapher, denn geplatzt ist nicht das Internet. Implodiert sind vor Jahresfrist vielmehr die Träume derer, die das Internet in eine gigantische Shoppingmall verwandeln wollten. Wer glaubte, die globale Wirtschaft mit einem eben geborenen Dotcom-Betrieb umkrempeln zu können und über Nacht stinkreich zu werden, dem müssen heute noch die Ohren läuten. Vom Knall, mit dem die E-Commerce-Blase barst.

Brauchen uns deswegen die gescheiterten Onlinekaufleute Leid zu tun? Nicht im Geringsten: Das Internet hats gut verkraftet, wächst und gedeiht auch weiterhin. Zwar ist die Zahl der Webseiten zurückgegangen; dennoch stehen dem Surfer mehr als 36 Millionen Websites offen. Die Schar der Surfer nahm sogar kräftig zu: Rund 459 Millionen Menschen sind es weltweit, während ein Jahr zuvor erst 300 Millionen online waren.

Bald eine halbe Milliarde Leute, die das Web für sich nutzen – als Informationsbasar, als globale Bibliothek und Hort des Wissens. Als Hobby und Zeitvertreib, als Kommunikationsplattform und Game-Spielwiese. Oder zu welchem verdienstvollen oder abartigen Zweck auch immer. Der springende Punkt: Das Internet ist unendlich viel mehr als ein Einkaufsparadies für Stubenhocker. Wer das chaotische Netz der Netze in seiner ganzen Unübersichtlichkeit zu schätzen weiss, mag es nicht allein auf seine kommerziellen Möglichkeiten reduzieren wollen. Dem Vereinnahmungsversuch der Handel treibenden Gilde hat sich die globale Surfgemeinschaft wirkungsvoll entgegengesetzt und sich durch unspektakuläre, aber urdemokratische Konsumverweigerung die Vielfalt in «ihrem Internet» bewahrt.

Im Cyberspace bleibt die Kreditkarte fakultativ – zum Glück. Gleichzeitig gelingt es den Onlinehändlern inzwischen ganz gut, ihre Stärken auszuspielen. Von Amazon über Yahoo und MSN haben die Grossen der Branche 2001 hervorragende Weihnachtsverkäufe erzielt. Web-Buchhändler Amazon hat zwischen dem 9. und 21. Dezember 39 Millionen Bestellungen abgewickelt, rund 7 Millionen mehr als im Vorjahr.

Ein bescheidener Zuwachs im Vergleich zu den Rekordmeldungen der spezialisierten Last-Minute-Händler. Anbieter, die noch an Heiligabend Geschenke auslieferten, konnten bis zweihundert Prozent mehr Umsatz tätigen. Das Argument ist schlagkräftig und überzeugte den letzten E-Business-Muffel: Bringt mir ein Kurier die Gaben an die Haustür, bleibt mir das Gedränge im übervollen Einkaufscenter erspart. An keinem anderen Tag macht E-Commerce mehr Sinn.

Quelle: Tages-Anzeiger, Montag, 14. Januar 2002

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Thema: Monitor
Nr: 3922
Ausgabe: 02-114
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