Nach Übernahme von Elon Musk

Die perfekte Alternative zu Twitter? Das taugt Mastodon

Mastodon bietet mehr Unabhängigkeit als die Konkurrenz. Trotzdem hatte die Plattform bislang nicht viele Nutzer. Elon Musks Twitter-Übernahme könnte das ändern.

Matthias Schüssler

Elon Musk polarisiert: Der wohl neue Twitter-Besitzer im Mai 2022 an einer Gala in New York.

Mastodon existiert seit fünf Jahren, doch es brauchte Elon Musk, um dieses soziale Netzwerk ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Denn seit sich der Tesla-Chef mit viel Getöse und ruppigen Nachrichten auf Twitter breitmacht und kurz davor ist, den Kurznachrichtendienst zu kaufen, ist dort vielen angestammten Nutzern die Lust vergangen.

Mastodon erscheint für sie als geradezu perfekte Alternative: Dieses soziale Netzwerk funktioniert ähnlich wie Twitter, hat aber einen entscheidenden Unterschied: Es ist dezentral strukturiert, wird als freie Software entwickelt und «gehört» seinen Nutzern. Anders als bei Twitter, Facebook, Linkedin oder Tiktok gibt es keinen zentralen Server – weswegen niemand befürchten muss, dass ein exzentrischer Milliardär sich dieser Plattform bemächtigt.

Digitaler Föderalismus

Stattdessen besteht Mastodon aus vielen sogenannten Instanzen: Das sind Server, die von unterschiedlichen Leuten betrieben werden und für die eigene Regeln gelten. Als Nutzer geniesst man die Freiheit, auszuwählen, wo man sich anmeldet und seine Daten speichert. Es ist sogar möglich, eine eigene Instanz ins Leben zu rufen und dort Leute mit ähnlichen Vorlieben zu versammeln.

Beim sozialen Netzwerk Mastodon wird der digitale Föderalismus gepflegt.

Diese einzelnen Server existieren nicht isoliert, sondern sind untereinander verbunden. Es ist möglich, mit Nutzern anderer Instanzen zu kommunizieren und sich über die Servergrenzen hinweg zu folgen. Die Gesamtheit der Instanzen nennt sich Fediversum oder englisch Fediverse, weil hier der digitale Föderalismus gepflegt wird: Einzelne Glieder schliessen sich zu einem Ganzen zusammen, wobei sie eine gewisse Unabhängigkeit wahren. In diesem Fediversum existiert nicht nur Mastodon, sondern auch andere soziale Netzwerke, unter anderem das ehrenamtlich entwickelte Friendica.

Die Einstiegshürden überwinden

Die dezentrale Struktur schützt Mastodon vor Vereinnahmungs­versuchen, doch sie stellt neuen Nutzern Einstiegshürden in den Weg. Wenn Sie mitmachen möchten, müssen Sie sich als Erstes für eine Instanz entscheiden, und von denen gibt es inzwischen an die 3100.

Die Ur-Instanz ist Mastodon.social, die vom Erfinder selbst betrieben wird – nämlich von Eugen Rochko, der an der Universität Jena Informatik studiert hat und Mastodon 2016 als damals 24-Jähriger ins Netz stellte. In Deutschland existieren inzwischen eine Reihe von lokalen Servern, beispielsweise Muenchen.social oder Social.cologne, doch Anlaufstellen mit Schweizer Bezug sind noch rar. Eine ist Swiss-chaos.social, die vom hiesigen Chaos Computer Club betrieben wird.

Ein aktueller Nachtrag dazu: Seit dem 2. November 2022 gibt es zwei Schweizer Instanzen, bei der sich namhafte Twitter-Abtrünnige versammelt haben, nämlich swiss-talk.net und swiss.social.

Die Ähnlichkeiten mit Twitter sind unübersehbar. Die Unterschiede, wie die offene Architektur und die grösseren Freiheiten der Nutzer, springen weniger ins Auge.
Screenshots: schü

Wo soll man sich anmelden? In dieser Übersicht gibt es ausgewählte Instanzen, die nach Kategorien sortiert sind.

«Ein Gefühl wie bei Twitter im Januar 2009».

Um die passende Instanz zu finden, orientieren Sie sich entweder an Freunden, die bereits auf Mastodon sind, oder Sie suchen auf Joinmastodon.org in der Übersicht der Communitys die passende Heimat.

Damit Nutzer im Fediversum eindeutig identifiziert werden, geben Sie erst den Nutzernamen, dann die Instanz an – fast wie beim E-Mail: Eugen Rochko ist als @Gargron@mastodon.social erreichbar, der deutsche Comiczeichner Ralph Ruthe unter @ralphruthe@troet.cafe und Wettermann Jürg Kachelmann unter @kachelmann@mastodon.social.

Die Suche nach interessanten Leuten ist die grosse Schwäche von Mastodon: Sie liegt einerseits in der dezentralen Struktur begründet. Andererseits wird bei der Anmeldung nicht wie bei vielen anderen Plattformen das Adressbuch hochgeladen, sodass keine Kontakte anhand von Mailadressen oder Telefonnummern abgeglichen werden.

Melden Sie sich bei Mastodon an?

  • Ja, ich will dieser Plattform eine Chance geben. 23%
  • Vielleicht, sofern ich bei «Candy Crush» eine Pause brauchen sollte. 7%
  • Nein – ich bin schon längst dabei! 9%
  • Nein, Twitter und Facebook stressen mich schon genug. 13%
  • Nein, ich werde auch weiterhin einen Bogen um soziale Medien machen. 49%

146 Personen haben an dieser nicht repräsentativen Befragung teilgenommen.

Kaum Promis, keine Influencer

Sie kommen nicht darum herum, Ihren Freundeskreis Schritt für Schritt aufzubauen, ohne dass es Promis oder Influencer gäbe, an denen Sie sich orientieren könnten. Eines der wenigen bekannten Gesichter im Fediversum ist der deutsche Satiriker Jan Böhmermann (@janboehm@mastodon.social), und der hat treffend getrötet: «Wahnsinn, ein Gefühl wie bei Twitter im Januar 2009.»

Und ja, es nennt sich tatsächlich «tröten», wenn Sie via Mastodon eine Nachricht absetzen.

Es bleibt die Frage: Lohnt sich das? Ich habe mich 2018 angemeldet, aber die Plattform seitdem kaum mehr benutzt. Doch jetzt, nach Elon Musks unabsichtlicher Schützenhilfe, ist eine Aufbruchsstimmung spürbar. Es sind zwar nach wie vor Technikfreaks und Verfechterinnen des freien Internets anzutreffen. Aber gleichzeitig ist Mastodon inzwischen breit genug aufgestellt, dass daraus tatsächlich eine Alternative zu den von den Techkonzernen dominierten Plattformen werden könnte. Darum meine Empfehlung: Probieren Sie es aus!

Quelle: Newsnetz, Donnerstag, 5. Mai 2022

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