Was bringt die Zukunft?

Durch die Maschen gefallen

Im Jahr 2030 ist das Internet allgegenwärtig und fast omnipotent. Doch dagegen formiert sich Widerstand – eine kleine Gruppe von Verweigerern hat sich ausgeklinkt.

Matthias Schüssler

2030 ist das Internet kein grosses Thema mehr – nichts, worüber man sich noch viele Gedanken machen würde. Das Netz ist so gegenwärtig, dass wir es kaum mehr wahrnehmen. Es ist Säule der Wirtschaft, Motor des Staatswesens – und Fundament unseres Privatlebens.

Es vernetzt Haushaltsgegenstände, koordiniert selbstlenkende Fahrzeuge sowie die Produktionsroboter in smarten Fabriken, und es bindet Biosensoren in unseren Körpern an medizinische Datenbanken an. Das Internet im Jahr 2030 ist überall und unsichtbar. Es ist kommunikativ, künstlich intelligent und unheimlich dienstbar. Niemand braucht seine Lebensmittel mehr nach Hause zu schleppen. Drohnen bringen vorbei, was man so braucht. Kleider kann man an seinem digitalen Avatar Probe tragen. Und die virtuelle Realität bietet uns perfekte Rückzugsmöglichkeiten: Westeros, Mittelerde oder Alderaan – jeder taucht dort ab, wo es ihm gefällt.

Doch da gibt es die versprengten Grüppchen der Internetverweigerer. Es sind nicht diejenigen, die mit Technik nichts anzufangen wüssten. Im Gegenteil. Es sind die einstmaligen Freaks und Nerds, die sich im Netz nicht mehr wohlfühlen. Sie beklagen die Überwachung im Netz, die schleichend Einzug gehalten hat. Edward Snowdens Enthüllungen hatten 2013 manche Nutzer zwar nachhaltig verunsichert, doch politisch hatten sie keine Folgen. Im Terrorjahr 2016 haben die Schweizer für ein neues Nachrichtendienstgesetz mit mehr staatlicher Überwachung gestimmt.

Die Freiheit zerfällt Jahr für Jahr

NGOs hatten ebenfalls 2016 berichtet, dass die Freiheit im Netz weiter zerfällt, bereits im sechsten Jahr in Folge. Zwei Drittel aller Nutzer leben weltweit in Ländern, in denen das Netz zensuriert wird. In 38 Ländern konnte man für eine Äusserung in sozialen Medien oder sogar für ein Like verhaftet werden. Die sozialen Medien boten den Zensoren willig Hand. Facebook zum Beispiel entwickelte gemäss der «New York Times» eine Software zur Unterdrückung unerwünschter Posts. Diese Software würde dem sozialen Netzwerk den Weg ins Reich der Mitte öffnen, wo es bislang blockiert war.

China seinerseits hat ein «soziales Kreditsystem» eingeführt, das jene Bürger belohnt, die sich politisch und sozial wohlgefällig aufführen und die persönlichen Finanzen in Ordnung halten. Das ist nichts anderes als die Gamification, mit der Fitness-Apps die Nutzer für gesundes Verhalten belohnen.

Das Grüppchen der vom Internet Abgefallenen kritisiert aber nicht nur die staatliche Vereinnahmung des einstmals so freien Netzes. Noch mehr leidet es unter dem Verlust der Privatsphäre. Seit der Personal Computer durch Smartphones und Tablets abgelöst wurde, liegen Fotos und Videos, digitale Briefe und Rechnungen nicht mehr auf der eigenen Festplatte, sondern in der Cloud. Dort kümmern sich auch smarte Assistenten um die Daten. Sie analysieren Bilder und Finanztransaktionen, Mediennutzung und Biowerte. Nichts bleibt mehr im Verborgenen, alle Bereiche des Menschseins werden durch die smarten Algorithmen optimiert. Die grosse Masse der Nutzer schätzt das. Doch manchen macht Big Data Angst. Diese Menschen fühlen sich nackt und blossgestellt.

Die grossen Datenmengen liegen auf den Servern ganz weniger Unternehmen. Denn je komplexer das Netz geworden ist, desto weniger kleine Unternehmen können mithalten. Die Konzentration der Daten und der Macht lässt den Verweigerern kaum noch eine Wahl.

Verweigerung kostet

Wer sich im Jahr 2030 digital nicht komplett ausliefern will, der zahlt einen hohen persönlichen Preis. Wer aufs Smartphone verzichtet, um seine Datenspur gering zu halten, kann nur mehr schwer am normalen Leben teilnehmen. Das Telefon ist Zahlungsmittel, digitales Ticket, elektronischer Ausweis. Als Verweigerer muss man, da Bargeld kaum mehr gebräuchlich ist, mit Bitcoins hantieren. Da Facebook inzwischen die Rolle eines Universalmediums spielt, verpassen die digitalen Rebellen viel – Veranstaltungen, News und Fake-News.

Doch sind sie nicht bereit, ihren Traum der frei fliessenden Information und der gleichberechtigten Netzteilnehmer zu beerdigen. Sie haben daher still und leise im Schatten des Internets eine Alternative aufgebaut. Dieses Ersatznetz funktioniert ohne zentrale Infrastruktur, indem sich die Endgeräte direkt verbinden und Informationen von Teilnehmer zu Teilnehmer weitergereicht werden, bis sie das Ziel erreichen. Ein solches vermaschtes Netz oder «Mesh Network» kommt ohne Internetprovider aus und ist gegen Zensur resistent. Es ist aber nicht allgegenwärtig und unsichtbar, sondern so langsam wie das Internet zu seiner Anfangszeit – als Onlineinformationen noch knapp und wertvoll waren.

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 28. Dezember 2016

Rubrik und Tags:

Faksimile
161228 Seite 29.pdf

Die Faksimile-Dateien stehen nur bei Artikeln zur Verfügung, die vor mindestens 15 Jahren erschienen sind.

Metadaten
Thema: Aufmacher
Nr: 14227
Ausgabe:
Anzahl Subthemen: 1

Obsolete Datenfelder
Bilder:
Textlänge:
Ort:
Tabb: FALSCH