Web-Editor aus der Open-Source-Welt

Der Nachwuchs-Web-Editor tritt an

Aus dem Composer-Modul von Netscape ist ein eigenständiges Programm zum Bearbeiten von HTML-Seiten hervorgegangen. Nvu hat nicht das Zeug zum GoLive-Killer, ist aber ein gutes Werkzeug für Gelegenheits-Webdesigner.

MATTHIAS SCHÜSSLER Die Netscape-Browser-Suite ist tot. Auch wenn AOL ab und zu eine neue Version ins Netz stellt, bestimmt inzwischen die Open-Source-Gemeinschaft beziehungsweise Mozilla Firefox, wohin die Reise geht. Die Bestandteile des Ur-Browsers ihrerseits feiern fröhlich Urständ: Das Mailmodul ist als Thunderbird wieder auferstanden. Die Browser-Komponente heisst Firefox und jagt dem Internet Explorer Marktanteile ab. Und «Composer», Netscapes Modul zum Editieren von HTML-Seiten, ist seit kurzem als eigenständiges Webdesign-Tool verfügbar.

Die Wiedergeburt des Composers tritt unter dem Namen Nvu an, Adobe und Macromedia das Fürchten zu lehren. Nvu soll wie englisch gesprochen «new view» – «neue An-, Aus- oder Einsicht» – klingen. Hinter dem Programm steht allerdings ein alter Bekannter. Daniel Glazman hat es entwickelt und konzipiert. Der Mann ist ein ehemaliger Netscape-Programmierer und wurde 2003 von seinem damaligen Arbeitgeber entlassen, als AOL entschied, das Netscape-Team um rund fünfzig Programmierer zu verkleinern. Seither betreut er das Projekt im Auftrag eines Linux-Unternehmens. Linspire, der Sponsor, hatte 2001 mit dem «Lindows»-Projekt Furore gemacht: Dabei handelte es sich um eine Version des Linux-Betriebssystems, auf der auch Windows-Programme hätten laufen sollen. Dieses Versprechen hatte Linspire nicht einlösen können. Microsoft sah dem Projekt «Alternativ-Windows» auch nicht tatenlos zu.

Auch bei Nvu darf man nicht alle Ankündigungen für bare Münze nehmen, die Linspire in die Welt setzt. Die Website Nvu.com verspricht ein komplettes Web-Authoring-System mit allem Drum und Dran. Sie impliziert, dass man als Nvu-User ohne Zögern seine Frontpage- oder Dreamweaver-Installation von der Festplatte fegen könne. Das ist zu hoch gegriffen. In der Liga der HTML-Boliden spielt Nvu längst noch nicht.

Schustern ohne HTML-Hammer

Nvu ist vielmehr ein solides Einsteigerprogramm, mit dem man in einer grafischen Darstellung HTML-Seiten zusammenschustern kann. Anders als bei vielen Editoren aus dem Shareware-Bereich sind Kenntnisse der Hypertext Markup Language von Vorteil, aber nicht Pflicht. Wer mit dem Netscape Composer gearbeitet hat, wird sich bei Nvu schnell zurechtfinden – die «View» (Ansicht) aufs Programm ist alles andere als neu. Nvu unterscheidet sich nur in Details von Composer. Die Symbolleisten sind bis auf einige neue Knöpfe gleich geblieben; allerdings gibt es eine neue Symbolleiste für die Zuweisung von CSS-Stilen zu bewundern. Wie gehabt stehen für jede Seite über Reiter vier Ansichten zur Verfügung: In «Normal» tippt man seine Texte und gestaltet die Seiten. In «HTML-Tags» sieht man die Struktur einer Seite, indem die HTML-Elemente mit gelben Etiketten ausgezeichnet werden. Unter «Quelltext» ist der Code einer Seite zu begutachten (oder zu modifzieren). Und unter «Vorschau» sieht man die Seite, wie sie im Browser erscheinen wird.

CSS-Editor: nicht sehr stylish

Ein HTML-Editor, der sich «modern» nennt, muss CSS beherrschen. Nvu kommt dieser Verpflichtung über den Befehl «Extras > CSS» nach. Der Stil­editor ist kein Ausbund an Benutzerfreundlichkeit, aber soweit brauchbar. Ungewöhnlich ist der Weg, eine neue Stildatei anzulegen. Man klickt im CSS-Editor auf die Schaltfläche «Style Element» und betätigt dann rechts unter «Allgemein» die Schaltfläche «Stylesheet erstellen». Standardmässig bindet der Editor die Formatdefinitionen in die HTML-Datei ein. Für eine externe CSS-Datei klickt man dann auf die Taste «Styledatei exportieren und auf externes Stylesheet umstellen». Das ist mehr als umständlich, zumal Nvu die Stildatei mit einem absoluten Pfad verknüpft: Sobald man seine Sites auf einen Webserver lädt, wird die Stildatei nicht mehr gefunden – nur wer weiss, wie man von Hand eine relative Pfad­angabe formuliert, wird diese Klippe umschiffen.

Nvu bietet eine Live-Voransicht des aktuellen Stils und die Möglichkeit, die Stildatei vorübergehend zu deaktivieren. Das Zuweisen der Stile erfolgt über die Formatierungs-Symbolleiste oder aber über die Statusleiste: Sie zeigt, wie man das aus GoLive kennt, die HTML-Baumstruktur und zeigt zu einem markierten Element alle übergeordneten Elemente. Mit einem Rechtsklick auf einen der aufgeführten Tags lässt sich demselben ein Stil zuweisen. Das ist praktisch, allerdings funktioniert es in Nvu nicht immer.

Seitenhieb auf die Seitenverwaltung

Neu ist auch die Seitenverwaltung. Mit ihr managt man Webseiten, entweder lokal oder auf einem Webserver. In unserem Test hat sich die Kontaktaufnahme mit dem FTP-Server als knifflig erwiesen. Auch der Funktionsumfang ist vergleichsweise bescheiden: Man darf von der Seitenverwaltung auch nicht die umfangreichen Funktionen zum Synchronisieren der lokalen Kopie der Website mit dem Webserver erwarten. Bei der Suche von toten Links oder verwaisten Dateien hilft Nvu nicht weiter; die so genannte «Seitenverwaltung» ist nicht viel mehr als eine Upload-Hilfe.

Pflichtvergessenheiten

Will man dem geschenkten Gaul denn ins Maul sehen, gibt es weitere Dinge zu bemängeln: Es gibt keine Möglichkeit, Seiten mit Frames zu erstellen (auch wenn Frames verpönt sind – sie gehören zum Pflichtprogramm eines Webeditors). Die Vorschaufunktion rendert die Seite mit der Gecko-Engine. Diese «Darstellungsmaschine» bringt Webseiten auch bei Firefox und Mozilla an den Bildschirm, und natürlich setzt auch ein Programm mit der Vergangenheit von Nvu auf Gecko. Dennoch wäre es nicht verkehrt, zusätzlich eine Vorschau im Internet Explorer zu ermöglichen: Eine Hexerei ist das zumindest unter Windows nicht. Microsofts Browser stellt seine Dienste ohne viel Aufhebens auch in anderen Programmen zur Verfügung. Und es wäre eine Erleichterung, zumal Webdesigner bis auf Weiteres nicht darum herumkommen, zu überprüfen, was der Internet Explorer mit ihren Werken anstellt.

Altmodisch muten auch die vielen Dialogboxen an, mit denen man es als Nvu-Nutzer zu tun kriegt. Viele Arbeiten wie etwa der Einbau eines Bildes, eines Formulars oder Hyperlinks erledigt man über modale Dialogboxen. Solche Eingabefenster sperren die Anwendung komplett; man kann also nicht vom Dialog mit den Hyperlink-Eigenschaften zum Dokumentenfenster wechseln. Das ist nicht mehr zeitgemäss. Von Werkzeugpaletten oder leisten ist man längst mehr Flexibilität gewohnt.

Tabellenturbo

Verglichen mit den grossen Webdesign-Tools, gibt es an Nvu somit einiges auszusetzen. Das bedeutet nicht, dass sich das Programm in der Praxis nicht einsetzen liesse. Ganz im Gegenteil: Für überschaubare Projekte ist Nvu eine gute Wahl. Der Editor eignet sich bestens für kleinere Änderungen, für die man GoLive oder Dreamweaver nicht starten mag. Und Nvu hat auch seine Stärken. Wirklich gelungen ist der Umgang mit Tabellen. Man kann beispielsweise direkt im Dokumentenfenster Spalten löschen oder hinzufügen: Setzt man den Cursor in eine Zelle, zeigt Nvu in der Mitte des oberen Randes drei kleine Symbole: Ein Pfeil nach links, mit dem man links eine Spalte hinzufügt, ein Pfeil nach rechts, mit dem man desgleichen auf der rechten Seite tun kann, und dazwischen ein x-Symbol, mit dem man die Spalte löscht. Ein ähnliches Symbol gibt es am linken Zellenrand, mit dem man die Zeilen bearbeitet. Das ist echter Usability-Fortschritt. Schön auch die Bemassung der einzelnen Elemente in der Lineal-leiste. Sie ist interaktiv und erlaubt es, die Dimensionen veränderbarer Grössen wie Tabellenzellen oder Ebenen (Objekte mit absoluter Positionierung) anzupassen.

Fazit

Nvu ist ein interessantes Projekt und ein nützliches Programm. Wer die Versprechungen des Sponsors für bare Münze nimmt, wird enttäuscht sein – denn solange Nvu (zur Hauptsache) als One-Man-Show von Daniel Glazman allein entwickelt wird, darf man nur Kernfunktionen erwarten. Falls weitere freie Programmierer auf den Zug aufspringen, steht Nvu eine grosse Zukunft bevor.

Webdesign-Programme müssen nicht per se eine überladene Oberfläche haben. Nvu zeigt, dass es auch übersichtlich geht.

Elegant ist anders: CSS-Editor von Nvu.

Einleuchtend: wie man in Tabellen Zeilen und Spalten löscht oder hinzufügt.

Wie in GoLive: die Statusleiste, in der der HTML-Baum aufgeästelt wird.

Die Ansicht «HTML-Tags» gibt Aufschluss über die Struktur einer Seite. Schade: CSS-Informationen werden nicht visualisiert.

Quelle: Publisher, Freitag, 9. Dezember 2005

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Thema: Software-Test
Nr: 6666
Ausgabe: 05-6
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