Geschenktes Office-Zugpferd

Open Office ist kostenlos und dennoch ein – mit wenigen Abstrichen – vollwertiges Büropaket.

Von Matthias Schüssler

Diesem Gaul darf man getrost ins Maul schauen: OpenOffice ist geschenkt und nichtsdestotrotz über (fast) alle Zweifel erhaben. OpenOffice ist ein voll ausgerüstetes Büropaket und enthält nicht nur eine Textverarbeitung, einen Web-Editor, eine Tabellenkalkulation, ein Grafikmodul, einen Editor für den Satz mathematischer Formeln, sondern auch ein Präsentationsprogramm. Das macht OpenOffice für budgetbewusste Anwender zu einer valablen Alternative zu einem kommerziellen Produkt – und zu einer willkommenen Abwechslung für Microsoft-müde Konsumenten.

Der Ein- oder Umstieg auf die seit letzter Woche verfügbare Version 1.0 beginnt mit einem Besuch bei www.openoffice.org und dem Download einer rund 50 MB grossen Installationsdatei. Wer diese Datenmenge seinem Modem nicht zumuten mag, sollte einige Tage zuwarten und sich dann am Kiosk eindecken: Die Computerfachzeitschriften werden es sich nicht nehmen lassen, dieses Schnäppchen auf ihre Cover-CDs zu pressen.

Umsteigen? – Jein!

Nach der Installation erscheint das Büroprogramm in deutscher Sprache und einer reichlich biederen Arbeitsoberfläche auf dem Bildschirm. Office-erprobte Anwender ohne softwarebezogene Schwellenängste werden bei Menüstruktur, Dialogboxen und Symbolleisten schnell die Gemeinsamkeiten zu Microsofts Produkt wiedererkennen und ohne Umschweife mit der Arbeit loslegen können. Wer andererseits in die Defensive gerät, wenn ein Arbeitsschritt nicht auf die gewohnte Weise erledigt werden kann, für den hält OpenOffice viele Hürden bereit. Nebst Ähnlichkeiten gibt es auch eine grosse Zahl an Unterschieden zum Office derGates-Company.

Wer sich für OpenOffice entscheidet, muss sich selbst zu helfen wissen. Probleme können nicht mittels Anruf bei einer Supporthotline, sondern nur durch eine Recherche im Internet oder eine Anfrage bei der Kummerbox gelöst werden. Es gibt keinen Hersteller, der Schulung oder Gewährleistung böte – wenn diese Punkte wichtig sind, dann ist Office XP oder StarOffice die bessere Wahl. Das Ende Monat erscheinende Star Office 6.0 ist die kommerzielle «Schwester» von OpenOffice und wird für um die 100 US-$ erhältlich sein. Diese auf dem gleichen Code basierende Variante wird auch die Komponenten enthalten, welche bei der freien Version aus lizenzrechtlichen Gründen fehlen, z. B. die Rechtschreibekorrektur. Wer die freie Version einsetzt, kann diese Funktion über einen Drittanbieter nachrüsten: http://aspell.net

Ein Knackpunkt für jeden MS-Office-Herausforderer sind die Importmöglichkeiten. Nur wenn die Dateien des dominanten Konkurrenten geöffnet und gespeichert werden können, ist an einen Umstieg überhaupt zu denken. Bei unserem Test mit verschiedenen Winword- und ExcelDokumenten wurden keine grundlegenden Probleme, wohl aber diverse Unstimmigkeiten manifest. Wie die beiden oben abgebildeten Screenshots zeigen, öffnet OpenOffice Writer (rechts) ein Textdokument, das in Winword (links) erstellt worden ist – mit diversen Abweichungen zum Original. Am augenfälligsten ist, dass das eingebettete Bild verloren ging. Nebst verändertem Zeilenfall erscheint die in Winword mit grüner Farbe gefüllte Tabellenzelle als gelb und der vertikal gesetzte Text horizontal. Beim Austausch von Tabellenkalkulationen verstand das OpenOffice-Modul einzelne Excel-Formeln nicht. Ob diese Konvertierungshindernisse ins Gewicht fallen oder nicht, ist von Fall zu Fall zu entscheiden. Immerhin sind die dafür notwendigen Tests ohne Kostenfolge durchführbar.

OpenOffice hat 10 000 Väter

Die Veröffentlichung ist ein wichtiger Meilenstein für die Open-Source-Szene: Die rund 10 000 in aller Welt verstreuten Entwickler von OpenOffice haben die Erfolgsgeschichte des freien Betriebssystems Linux bestätigt und bewiesen, dass nicht nur ein gewinnorientiertes und straff organisiertes Unternehmen ein so komplexes Softwareprojekt zum Erfolg führen kann, sondern auch eine Interessensgemeinschaft mit idealistischen Motiven. Die gänzlich missratene Lancierung von Netscape 6 als freier Browser Ende 2000 hatte den Open-Source-Gegnern in die Hände gespielt.

So gelungen OpenOffice ist – Microsoft muss vorerst nicht um die Vormachtstellung seines Produktes bangen. Erfahrungsgemäss zeigen Anwender nur wenig Bereitschaft, von einer bewährten Lösung abzurücken: Unternehmen setzen nicht gern auf einen «Exoten» und fürchten den Schulungsaufwand, Private den Lernbedarf. Längerfristig ist mit dem freien Office-Paket zu rechnen. Natürlich, weil die Einsparungsmöglichkeiten mit dem kostenlosen OpenOffice im Vergleich zum teuren Produkt des Marktführers gewaltig sind. Aber auch, weil die Computerwelt reif für ein Produkt wie OpenOffice ist.

OpenOffice 1.0 ist für Windows, Linux und Solaris verfügbar; eine Version für MacOS X ist in Arbeit. Was OpenOffice besser kann als Microsoft: Siehe «Tipp der Woche».

http://lang.openoffice.org/de

Diabolische Nagelprobe: Das Originaldokument in Winword.

Besser als Excel: Die Grafik von Calc ist dem Konkurrenten überlegen.

ALLE SCREENS TA

Der Teufel liegt im Detail: Das importierte Dokument in OpenOffice.

Quelle: Tages-Anzeiger, Montag, 13. Mai 2002

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Thema: Hauptgeschichte
Nr: 4040
Ausgabe: 02-513
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