Schüssler

Claude 3 ist toll – aber ist er auch ein Chat-GPT-Killer?

Hat bei der künstlichen Intelligenz ein Evolutionssprung stattgefunden – schon wieder? Grund für die Spekulationen ist ein Chatbot, den die meisten von uns bisher nicht auf dem Schirm hatten. Er heisst Claude und stammt von einer gemeinnützigen Organisation aus San Francisco: Anthropic wurde 2021 von abtrünnigen Open-AI-Leuten gegründet und gehört heute mit Google, Facebook, Microsoft und Open AI zu den massgeblichen Akteuren rund um KI.

Die Aufregung rührt daher, dass Claude eine Testfrage als solche erkannt hat. Ist das ein Verständnis dafür, was er ist und was Menschen von ihm wollen? Manche erkennen ein Bewusstsein – andere winken ab: Yannic Kilcher spricht Claude jegliche Empfindungsfähigkeit ab. Er forscht zum maschinellen Lernen und ist erfolgreicher Youtuber. Die NZZ nannte ihn «einen coolen Nerd aus Zürich», und er erklärt in einem Video, auch bei Claude sei alles bloss Statistik: «Also entspannt euch, alles ist gut!»

Nicht empfindungsfähig – aber trotzdem eine Sensation? Anthropic sagt, ihr neuer Bot würde seine Konkurrenten bei den meisten Kriterien übertreffen: «Er zeigt ein nahezu menschliches Verständnis für komplexe Aufgaben.» Doch solche Benchmarks sagen wenig über die Alltagstauglichkeit aus. Die lässt sich nur durch Praxistests eruieren.

Claude ist in der Schweiz bislang nicht freigeschaltet. Doch über ein VPN, also einen Daten-Tunnel in die USA, lässt sich die Geoblockade überwinden. Auf claude.ai gibt es eine kostenlose Testmöglichkeit von Claude 3 Sonnet. Das ist die zweitgrösste Variante. Die leistungsfähigste heisst Claude 3 Opus. Für die sind 20 US-Dollar pro Monat zu entrichten.

Claude ist schnell und vielseitig, aber mitnichten ein Chat-GPT-Killer. Schon bei der ersten Frage – «Wer ist Alain Berset?» – leistet er sich einen Fauxpas: «Er ist derzeit Bundespräsident der Schweizerischen Eidgenossenschaft für das Jahr 2023». Claudes Datenbestand reicht bis zum August 2023, als Bersets Rücktritt bereits bekannt war. Doch selbst wenn Claude die Demission nicht mitbekommen hat, wäre klar, dass wir nicht mehr im Jahr 2023 leben.

Dieser Schnitzer zeigt, dass Claude eine der grossen Schwächen aller KI teilt: das mangelnde Verständnis für die Grenzen ihres Wissens. Auf Nachfrage räumt Claude ein, dass er neuere Ereignisse womöglich verpasst hat. Es bleibt dabei, dass KI nicht blauäugig benutzt werden dürfen: Es braucht die kritische Nachfrage und eine Überprüfung. Claude stattet seine Auskünfte nicht mit Quellenangaben aus. Faktenchecks per Google sind unverzichtbar.

Eine weitere, simple Frage überfordert Claude komplett. Als er berühmte Personen nennen soll, die in Zürich geboren sind, zählt er Roger Federer (Basel), Albert Einstein (Ulm), Tina Turner (Brownsville, Tennessee), Thomas Hirschhorn (Bern), Johanna Spyri (Hirzel) und Jakob Steiner (Utzenstorf) auf. Nur bei Max Frisch liegt die KI richtig. Interessanterweise stellt das Konzept des Geburtsorts auch für andere KI, inklusive Chat-GPT, eine tückische Hürde dar. Vielleicht, weil sie selbst keine Geburt erlebt haben?

Anthropic sieht Claude nicht bloss als Chatbot. Die Software sei auch für Forschungszwecke, für Analysen grosser Datenbestände und die Erzeugung von Programmcodes geeignet. Einige sehen Stärken bei juristischen Texten. Es wird interessant zu sehen sein, in welchen Bereichen sich die Konkurrenten von Open AI, Google, Meta und Anthropic hervortun.

Die Lehre bleibt, Claude nicht zu vermenschlichen und ihn nicht als mythisches Wunderwesen zu betrachten. Sehen wir ihn als das, was er ist: ein beeindruckendes Hilfsmittel, das mit seinen Fehlern fast schon human wirkt.

Matthias Schüssler ist Digitalredaktor der SonntagsZeitung.

Quelle: Sonntagszeitung, Sonntag, 31. März 2024

Rubrik und Tags:

Faksimile
240331 SZ Seite 61.pdf

Die Faksimile-Dateien stehen nur bei Artikeln zur Verfügung, die vor mindestens 15 Jahren erschienen sind.

Metadaten
Thema: SZ
Nr: 19960
Ausgabe:
Anzahl Subthemen:

Obsolete Datenfelder
Bilder:
Textlänge:
Ort:
Tabb: false