Schüssler

Eine unabhängige Alternative zu Twitter

Mastodon existiert seit fünf Jahren. Doch es brauchte Elon Musk, um dieses soziale Netzwerk ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Denn seit sich der Tesla-Chef mit viel Getöse und ruppigen Nachrichten auf Twitter breitmacht und kurz davor ist, den Kurznachrichtendienst zu kaufen, ist dort vielen angestammten Nutzern die Lust vergangen.

Mastodon erscheint für sie als perfekte Alternative: Dieses soziale Netzwerk funktioniert ähnlich wie Twitter, hat aber einen entscheidenden Unterschied: Es ist dezentral strukturiert und wird als freie Software entwickelt. Anders als bei Twitter, Facebook oder Tiktok gibt es keinen zentralen Server – weswegen niemand befürchten muss, dass ein exzentrischer Milliardär sich dieser Plattform bemächtigt.

Digitaler Föderalismus. Stattdessen besteht Mastodon aus vielen sogenannten Instanzen: Das sind Server, die von verschiedenen Leuten betrieben werden und für die eigene Regeln gelten. Als Nutzer geniesst man die Freiheit, auszuwählen, wo man sich anmeldet und seine Daten speichert. Es ist sogar möglich, eine eigene Instanz ins Leben zu rufen und dort Leute mit ähnlichen Vorlieben zu versammeln.

Diese einzelnen Server existieren nicht isoliert, sondern sind untereinander verbunden. Es ist möglich, mit Nutzern anderer Instanzen zu kommunizieren und sich über die Servergrenzen hinweg zu folgen. Die Gesamtheit der Instanzen nennt sich Fediversum oder englisch Fediverse, weil hier der digitale Föderalismus gepflegt wird: Einzelne Glieder schliessen sich zu einem Ganzen zusammen, wobei sie eine gewisse Unabhängigkeit wahren.

Die Einstiegshürden überwinden. Die dezentrale Struktur schützt Mastodon vor Vereinnahmungsversuchen, doch sie stellt neuen Nutzern Einstiegshürden in den Weg. Wenn Sie mitmachen möchten, müssen Sie sich als Erstes für eine Instanz entscheiden, und von denen gibt es inzwischen an die 3100.

Die Ur-Instanz, Mastodon.social, wird vom Erfinder betrieben. Das ist Eugen Rochko, der an der Universität Jena Informatik studiere und Mastodon 2016 als damals 24-Jähriger ins Netz stellte. In Deutschland existieren einige lokale Server, doch Schweizer Anlaufstellen sind rar. Eine ist Swiss-chaos.social, die vom hiesigen Chaos Computer Club betrieben wird.

Um die passende Instanz zu finden, orientieren Sie sich entweder an Freunden, die bereits auf Mastodon sind, oder Sie suchen auf Joinmastodon.org in der Übersicht der Communitys die passende Heimat. Damit Nutzer im Fediversum eindeutig identifiziert werden, geben Sie erst den Nutzernamen, dann die Instanz an. Beispiel: Eugen Rochko ist als @Gargron@mastodon.social erreichbar.

Wo sind die interessanten Leute? Die dezentrale Struktur und der Schutz der persönlichen Daten führt zur grössten Schwäche: Es schwieriger als anderswo, interessante Leute zu finden. Sie kommen nicht darum herum, Ihren Freundeskreis Schritt für Schritt aufzubauen, ohne dass es Promis oder Influencer zur Orientierung gäbe. Eines der wenigen bekannten Gesichter im Fediversum ist der deutsche Satiriker Jan Böhmermann (@janboehm@mastodon.social). Er hat treffend getrötet: «Wahnsinn, ein Gefühl wie bei Twitter im Januar 2009.»

Tröööt! Und ja, es nennt sich tatsächlich «tröten», wenn Sie via Mastodon eine Nachricht absetzen.

Lohnt es sich? Ich habe mich 2018 angemeldet, aber die Plattform seitdem kaum mehr benutzt. Doch jetzt, nach Elon Musks unabsichtlicher Schützenhilfe, ist eine Aufbruchsstimmung spürbar. Es sind zwar nach wie vor Technikfreaks und Verfechterinnen des freien Internets anzutreffen. Aber gleichzeitig ist Mastodon inzwischen breit genug aufgestellt, dass daraus tatsächlich eine Alternative zu den von den Techkonzernen dominierten Plattformen werden könnte. Darum meine Empfehlung: Probieren Sie es aus!

Matthias Schüssler ist Digitalredaktor der SonntagsZeitung.

Quelle: Sonntagszeitung, Sonntag, 8. Mai 2022

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