Analyse zur Übernahme

Warum Elon Musk für Twitter ein Glücksfall ist

Die Rechte feiert den neuen Chef als Verfechter der ungezügelten Meinungsfreiheit. Doch Elon Musks Vision für Twitter kann nur aufgehen, wenn er eine möglichst breite Basis schafft.

Matthias Schüssler

Das neue Chef-Profil: Elon Musk auf Twitter.

Auf Twitter ist die Trauer gross.

Nachdem Elon Musk nun kurz davorsteht, den Kurznachrichtendienst zu übernehmen, fürchten viele Nutzerinnen und Nutzer um ihre Plattform: Es gibt viel Geschimpfe über den zukünftigen Chef. Manche wollen sich eine Auszeit nehmen, andere zu Mastodon wechseln. Letzteres ist eine dezentrale Twitter-Alternative – technisch spannend, aber bisher ohne Einfluss.

Elon Musk trägt die Schuld daran, dass ihm so viel Ablehnung entgegenschlägt. Am Wochenende hat er getwittert, als neuer Chef werde er dem Vorstand den Lohn streichen. Er hat einen geschmacklosen Witz über Bill Gates’ Bauch platziert, um ihn für angebliche Leerverkäufe mit Tesla-Aktien zu bestrafen. Wie so oft hat er sich als Troll aufgeführt – wie der Holzfäller im Social-Media-Wald.

Musk versteht es, Ideen in attraktive Produkte zu verwandeln.

Das schürt Befürchtungen, dass mit Musk der Umgangston noch viel rauer werden könnte. Diese Ängste werden durch Leute wie Rechtsaussen-Fernseh-Kommentator Tucker Carlson befeuert, der auf Fox-News verkündete, das sei «ein grosser Tag für die freie Rede». Für ihn persönlich ist es das auf alle Fälle: Twitter hat, kurz nach Bekanntwerden des Besitzerwechsels, seinen Account wieder freigegeben. Carlson war vor einem Monat gesperrt worden, weil er sich an einem Angriff auf Rachel Levine, eine transgeschlechtliche Regierungsbeamtin, beteiligt hatte.

Die Grenzen des Sagbaren verschieben

Ohne Zweifel werden Leute wie Tucker Carlson versuchen, die Grenzen des Sagbaren auf Twitter zu verschieben.

Musk bezeichnet sich als «Absolutist der Meinungsfreiheit», was man so interpretieren könnte, dass er die Moderation abschaffen oder drastisch reduzieren will. Doch Musk geht es nicht darum, dass Leute wie Carlson ihre Transphobie ungestraft ausleben können. Er will Twitter zum digitalen Marktplatz der Ideen aufwerten, auf dem die Angelegenheiten verhandelt werden, die zentral für die Menschheit sind.

Das muss unweigerlich Wachstum bedeuten. Twitter hat mit rund 300 Millionen nur knapp 15 Prozent der Nutzerzahl von Facebook und gilt als elitär: Ein Dorfplatz, der vorwiegend von Politikerinnen, Wissenschaftlern und Journalistinnen bevölkert wird.

Musk hat mit dem Tesla zwar auch nicht gerade einen Volkswagen geschaffen, aber er versteht es, Ideen in attraktive Produkte zu verwandeln. Die Chance ist vorhanden, dass er Twitters ungenutztes Potenzial freisetzt.

Der globale Marktplatz braucht Umgangsformen und Vertrauen

Auf dem globalen Marktplatz der Ideen müssen gewisse Umgangsformen herrschen. Darum wird auch Musk die Bekämpfung von Hassrede und Fake News nicht unter den Teppich kehren können. Und falls doch, dann wird ihn die Politik in die Schranken weisen. Die EU hat sich letzte Woche auf ein Gesetz gegen Kriegspropaganda, Lügen und Hetze verständigt. Der Digital Service Act schreibt vor, dass Dinge, die offline illegal sind, auch online verboten sind.

Musk hat verstanden, dass der Kern seiner Vision das Vertrauen ist: Er will die Bots in die Schranken weisen und alle menschlichen Nutzer authentifizieren. Und er hat die Idee, die Algorithmen transparent zu machen. Auf diese Weise wäre für uns alle verständlich, nach welchen Kriterien Tweets in der Zeitleiste auf- oder abgewertet werden. Das würde auch Facebook mit seinen notorisch undurchsichtigen Algorithmen unter Druck setzen.

Elon Musk verdient eine Chance.

Das sieht auch Jack Dorsey so. Der Twitter-Mitbegründer, der das Unternehmen erst vor kurzem verlassen hat und politisch viel weiter links steht als Elon Musk, kommentierte die Übernahme, indem er einen Radiohead-Song verlinkte: «Everything in Its Right Place» – alles am richtigen Platz.

Quelle: Newsnetz, Dienstag, 26. April 2022

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