Apple rüttelt das iPad wach

Heute veröffentlicht der amerikanische IT-Konzern die neue Version seines mobilen Betriebssystems. Sie bringt mehr Produktivität und das Eingeständnis, dass Apples ursprüngliche Tabletversion zu kurz gedacht war.

Matthias Schüssler

Heute Mittwoch, wahrscheinlich im Verlauf des frühen Abends, wird Apple iOS 9 zum kostenlosen Download freigegeben. Das ist die neue Version des Betriebssystems für iPhone und iPad: «Die neuen Funktionen rütteln an den Grundmauern, auf denen das iPad seit fünf Jahren steht», schreibt Blogger Alex Olma vom iPhoneBlog.de.

Olma bezieht sich auf die neuen Möglichkeiten, Apps parallel zu benutzen. Denn bis anhin galt die Regel, dass man am Tablet immer nur eine App im Vollbild sieht. Das iPad war eine radikale Vereinfachung der Benutzeroberfläche gegenüber den Möglichkeiten eines PC, wo Programmfenster neben- und übereinander platziert und als Symbole verkleinert werden können. Diese Einfachheit war ganz im Sinn des Erfinders. Steve Jobs hat das Bonmot geprägt, PC seien die «Trucks», die Lastwagen, die nur für die schweren Ladungen benötigt würden. Die Tablets dagegen sind nach der jobsschen Logik die Alltagfahrzeuge: wendig, unkompliziert und für die allermeisten Zwecke leistungsfähig genug.

Doch es scheint, dass Jobs sonst so untrüglicher Marktinstinkt bei den Tab­lets in die Irre ging. Gut fünf Jahre nach der Einführung des iPad sind die Verkaufszahlen rückläufig. 22 Prozent weniger iPads habe Apple verkauft, berichtete «Forbes» im April. Die Marktforscher fanden Gründe für das erlahmende Interesse: Tablets werden weniger schnell ersetzt als Smartphones, und nebst Apple und Samsung gibt es keine Hersteller, die den Markt vorantreiben.

Wozu ist ein Tablet gut?

Das grösste Problem liegt aber beim Verwendungszweck: Das «Time Magazine» behauptete noch vor kurzem, niemand wisse, «wozu ein Tablet gut sei». Smartphones wurden als persönliches Kommunikationsinstrument unentbehrlich, und Laptops sind als «Trucks» weiterhin gefragt. Tablets dagegen werden weiterhin als Freizeitgeräte wahrgenommen, mit denen man Spielchen spielt, Youtube schaut und im Web surft – die in dieser Funktion aber auch verzichtbar sind.

Darum soll das iPad jetzt als kreatives Produktionswerkzeug neu erfunden werden. Letzte Woche wurde das iPad Pro vorgestellt, das nicht nur ein grösseres Display hat, sondern auch mit optionaler Tastatur (169 Dollar) und Stift (99 Dollar) angeboten wird. Der Stift, «Apple Pencil» genannt, ist nicht nur druck-, sondern auch neigungssensitiv. Man kann mit ihm dünne und dicke Striche zeichnen und flach gehalten sogar Schattierungen anbringen wie mit einem Bleistift. Das hat Apple gleich doppelten Spott eingebracht. Erstens sind die abdockbare Tastatur und der Stift das charakteristische Zubehör von Micro­softs Surface-Pro-Tablet. Zweitens hat Steve Jobs 2007 proklamiert, niemand würde jemals einen Stift benutzen wollen.

Zur Verteidigung sei gesagt, dass sich Jobs damals auf die Handheld-Computer bezogen hat, die mit ihren winzigen Displays per Stift tatsächlich schlecht zu steuern waren. Das iPad Pro dagegen hat ein Display, das in der Fläche schon ziemlich nah an ein A4-Blatt herankommt und das Potenzial hat, sich zum digitalen Zeichenblock und zur virtuellen Staffelei zu mausern. Apple verspricht jedenfalls, ein Manko der digitalen Malutensilien ausgeräumt zu haben. Der Strich erscheint nur Millisekunden später auf dem Display, nachdem er mit dem Stift gezeichnet worden ist. Eine kaum spürbare Verzögerung, die den natürlichen Fluss der virtuellen Farbe nicht hemmen sollte.

Apps über- und nebeneinander

Die neue Systemsoftware bringt wie erwähnt die Möglichkeit, Apps parallel zu nutzen. Um das iPad produktiver zu machen, ist diese Funktion absolut essenziell: Jeder, der schon im Internet recherchieren musste, während er einen Text geschrieben hat, weiss, wie mühsam das Hin und Her zwischen Browser und Editor ist. Apple musste diese Funktion einbauen, ohne die Bedienung zu verkomplizieren. Apps mit iOS 9 in Fenstern darzustellen, war daher keine Option.

Apple hat die Aufgabe so gelöst, dass man vom rechten Rand eine zweite App hereinwischt. Sie überlagert die erste App mit einem schmalen Band am rechten Rand, «Slide Over» nennt sich das. Um die App zu wechseln, wischt man in diesem rechtsbündigen Streifen vom oberen Rand nach unten. Die überlagernde App verschwindet automatisch, wenn man zur ursprünglichen App zurückkehrt. Sinn und Zweck von «Slide Over» ist es, kurz etwas im Web nachzuschlagen, die Notizen zu bemühen oder eine neue E-Mail-Nachricht einzusehen.

Die zweite Methode nennt sich «Split View». Sie zeigt zwei Apps permanent nebeneinander an, sodass man mit beiden quasi parallel arbeiten kann. Um diese Darstellung einzurichten, öffnet man die zweite App durch eine Wischgeste vom rechten Rand in der «Slide Over»-Ansicht und vergrössert das schmale Band zur Mitte hin über die rechte Hälfte des Displays. Unser Video (siehe unten) demonstriert das im Detail.

Die geteilte Ansicht ist nicht mit allen Apps möglich. Bislang funktioniert sie vor allem mit den von Apple gelieferten Programmen: dem Safari-Browser, Mail, Notizen, Fotos, iBooks, Facetime, Karten, Kontakte und einigen anderen. Der Grund dafür ist, dass die Apps für die neuen Darstellungsmodi angepasst werden müssen. Mit ihnen verändern sich das Seitenverhältnis und die dar­gestellte Fläche.

Konkurrenz durch Microsoft

Eine dritte neue Darstellungsform ist «Picture in Picture» oder zu Deutsch ein Überlagerungsfenster. Es wird hauptsächlich bei Videofenstern anzutreffen sein. Diese lassen sich über eine Taste aus der Ursprungs-App «herauslösen» und als separates Fenster im Vordergrund betreiben, während man via Home­screen zu einer anderen App wechselt. Über dieses Fenster lässt sich etwa ein Youtube-Video verfolgen, während man parallel dazu ein Spielchen spielt oder mit Freunden chattet. «Picture in Picture» und «Slide Over» sind ab dem iPad Air und dem iPad mini 2 verfügbar. Für «Split View» benötigen Sie mindestens das iPad Air 2 oder das iPad mini 4.

iOS 9 ist ein wichtiges Update, das dem iPad Pro als «ernsthaftem» Werkzeug den Weg ebnet. Das Update ist allerdings auch das Eingeständnis dafür, dass das iPad trotz seines ursprünglichen Erfolgs zu kurz gedacht war. Einfach die Bedienkonzepte des iPhone auf das Tab­let zu übertragen und an den grösseren Bildschirm anzupassen, wird dieser Geräteklasse nicht gerecht. Microsofts universeller Ansatz mit den Convertibles, die je nach Situation in die Rolle des Laptops oder des Tablets schlüpfen können, ist trotz der beträchtlichen Umstände mit Windows 8 flexibler. Wenn Apple das Tablet als echte Alternative zum Smartphone und dem Laptop im Markt halten will, muss die Betriebssystem-Software eigenständige Wege gehen. Das könnte der Weg des digitalen Kunstschaffens sein, der mit dem iPad Pro eingeschlagen wird.

Apple will sein Tablet produktiver machen: Konzernchef Tim Cook bei der Präsentation des iPad Pro. Foto: Bloomberg

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 16. September 2015

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