Cyberkrieg um Ukraine

Anonymous – Helden oder Tastaturkrieger?

Das Hackerkollektiv hilft der Ukraine im digitalen Kampf gegen Russland. Wie geht es vor, was sind seine Motive, und was war am Sonntag eigentlich mit der «Weltwoche»-Website los?

Matthias Schüssler

In ihren Bekennervideos treten die Hacker mit Guy-Fawkes-Masken auf. Das Bild stammt aus dem Video, das nach dem Hack der Website des griechischen Justizministeriums im Februar 2012 veröffentlicht worden ist.

Was tut sich derzeit im Cyberspace?

Vergangenen Freitag hat das Hackerkollektiv Anonymous den Start der «Operation Russia» gestartet. Die besteht aus Angriffen auf russische Regierungswebsites und Nachrichtenkanäle, die zur Verbreitung von Propaganda genutzt werden. Zu den Zielen gehören die Internetpräsenzen des Kremls und der russischen Regierung, der Fernsehsender RT. Am Freitagabend hat es per Twitter mitgeteilt, man habe Mail- und Passwortdaten des russischen Verteidigungsministerium ins Netz gestellt.

Solche «Hacktivisten» gibt es auf beiden Seiten: Die in Russland beheimatete Conti-Gruppe schreibt online zwar, sie verurteile den Krieg, aber sie werde ihre «volle Kapazität nutzen, um Vergeltungsmassnahmen zu ergreifen, falls die westlichen Kriegstreiber versuchen sollten, kritische Infrastrukturen in Russland anzugreifen».

Wer ist Anonymous?

Anonymous ist eine Gruppe, die seit 2008 mit den Mitteln des Hacking politische Ziele verfolgt. Sie hat in der Vergangenheit Aktionen gegen Scientology und gegen Rechteinhaber wie die RIAA, den Verband der Musikindustrie in den USA, durchgeführt. Trotz der Bezeichnung «Kollektiv» ist Anonymous keine Organisation, sondern ein loser Verbund Gleichgesinnter – manche nennen es sogar ein Label beziehungsweise ein Spruchband, hinter dem sich Tausende von Aktivisten versammeln. Sie werden durch ihre linksliberalen Ideale geeint und setzen sich für persönliche Freiheiten und gegen Machtballung bei Unternehmen und Regierungen ein. «The Atlantic» nannte 2020 in einem Artikel den kanadischen Hacker und Sicherheitsexperten Aubrey Cottle als eines der Gründungsmitglieder. Er sei es auch gewesen, der sich vom Film «V for Vendetta» dazu inspirieren liess, mit seinen Mitstreitern in den anonymen Videos mit Masken des englischen Attentäters Guy Fawkes aufzutreten.

Wie geht Anonymous vor, um Websites lahmzulegen?

Die Hacker verwenden für Angriffe eine breite Palette digitaler Waffen. Gelegentlich lassen sie sich sogar in die Karten schauen. Im Juni 2021 haben sie die Website des deutschen Verschwörungs-Ideologen Ken Jebsen geknackt und Daten von annähernd 40’000 Nutzerinnen und Spendern erbeutet. In einem Blogpost erklären die Hacker, wie sie vorgegangen sind. Diese Beschreibung ist eine interessante Lektüre für jeden, der selbst eine Website betreibt.

Anonymous erklärt die «Kendemie für beendet» und spart auch sonst nicht mit Spott für den Verschwörungsmythiker.

Die Hacker von Anonymous haben ein mehrstufiges Verfahren angewandt: Erstens haben sie die Website von Ken FM über Monate und Jahre regelmässig auf Sicherheitslücken gescannt. Zweitens haben sie bei so einem Scan eine Sicherheitskopie der Datenbank entdeckt und heruntergeladen. Das allein hätte den Angriff nicht ermöglicht, weil die Site über starke Passwörter geschützt war. Doch weil der Webmaster eine Erweiterung installiert hatte, mit der sich die Website duplizieren liess, konnten sie eine zweite Installation einrichten und über diese eigene Passwörter einspeisen.

Nach vollendeter Tat hat Anonymous die Website übernommen und mit einer eigenen Botschaft versehen: «Diese Domain wurde von Anonymous beschlagnahmt» – auch das ein Markenzeichen der Hacktivisten.

War auch der Angriff auf die Website der «Weltwoche» am Sonntagabend ein Werk von Anonymous?

Am Sonntagabend präsentierte sich die Website der «Weltwoche» für einige Stunden in verunstalteter Form: Sämtliche Formatierungen waren verschwunden und alle Bilder durch ein Foto von SRF-Russland-Korrespondentin Luzia Tschirky ersetzt. Das war eine offensichtliche Retourkutsche auf einen Artikel des Blatts, in dem es kritisierte, die Fernsehfrau habe unnötigerweise eine kugelsichere Weste getragen und damit eine unnötige Inszenierung abgeliefert.

Wars Anonymous oder jemand sonst? Die Website der «Weltwoche» am Sontagabend.

Es hat sich niemand zu dieser Aktion bekannt, und darum wissen wir nicht, ob Anonymous dahintersteckt. Da sich das Kollektiv aber normalerweise auf den gehackten Websites zu erkennen gibt, wäre es zumindest eine untypische Operation.

Müsste es die russische Regierung mit ihren versierten Cyberkriegern nicht schaffen, derlei Angriffe abzuwehren?

Es ist anzunehmen, dass den Betreibern der Websites der russischen Regierung keine solch gravierenden Fehler wie dem Administrator von Ken Jebsen unterläuft. Allerdings ist die wasserdichte Absicherung eine aufwendige und anspruchsvolle Angelegenheit: Denn für die hundertprozentige Sicherheit muss der Betreiber einer Website sämtliche Schwachstellen finden – für einen Angreifer reicht es jedoch, wenn er eine einzige Lücke entdeckt, die er ausnutzen kann.

Es gibt auch eine Angriffsmethode, für die kein Einfallstor bekannt sein muss. Bei ihr wird der Server mit so vielen Anfragen eingedeckt, bis er so überlastet ist, dass er keine Informationen mehr ausliefern kann. Das nennt sich «Distributed Denial of Service»-Attacke (kurz DDoS) und wird mit einer Armada von Computern ausgeführt, die sich freiwillig beteiligen oder durch eine Schadsoftware in eine Bot-Armee verwandelt worden sind. Die Angriffe auf die Internetpräsenz des Kremls sind mittels DSoS ausgeführt worden.

Was sind die Motive von Anonymous und anderen Hackern?

Auf Twitter hat sich Anonymous letzten Donnerstag zu den Beweggründen hinter der «Operation Russia» geäussert: «Wir als Kollektiv wollen nur den Frieden in der Welt.» In dieser Botschaft gibt es auch einen direkten Appell an die russische Bevölkerung: «Es ist an der Zeit, dass das russische Volk zusammensteht und Nein zu Wladimir Putins Krieg sagt.»

Ob die Strategie aussichtsreich ist, bleibt abzuwarten. Dass sich Putin davon beeindrucken lässt, ist ausgeschlossen, aber wenn es Anonymous gelänge, Lücken in die innerrussische Propagandamauer zu schlagen, wäre das als Erfolg zu werten. Alles in allem sind die oft spektakulären Coups hauptsächlich geeignet, ein Thema in die Medienöffentlichkeit zu katapultieren. Beim Krieg gegen die Ukraine besteht die Notwendigkeit, Aufmerksamkeit zu schaffen, jedoch nicht. Da die angegriffenen Websites meist nach kurzer Zeit wiederhergestellt werden können, sind die Aktionen von Anonymous oft nicht von Dauer. Ausnahmen bilden die Fälle, in denen die Hacker Informationen erbeuten konnten, die journalistisch oder gerichtlich weiterverwendbar sind.

Die Autorin Gabriella Coleman, die 2015 ein Buch mit dem Titel «Hacker, Hoaxer, Whistleblower, Spy» über die vielen Gesichter des Kollektivs geschrieben hat, kommt zum Schluss, dass die meisten Mitglieder weder Kriminelle noch gelangweilte Teenager sind, sondern meist von politischen Beweggründen angetrieben werden. Insofern kann man die Aktion «Operation Russia» als Solidaritätsbekundung werten, vergleichbar mit den Demonstrationen, wie sie in vielen Städten derzeit stattfinden.

 

Quelle: Newsnetz, Montag, 28. Februar 2022

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