Fotografieren jenseits der Physik

Von Matthias Schüssler

Die Fotografie wird nie mehr sein, wie sie war: Leistungsfähige Algorithmen machen unmögliche Dinge möglich – und das unverfälschte Bild zu einem Auslaufmodell.

Die Fotografie, so wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Wir haben es nur noch nicht gemerkt. Eine kühne Behauptung, die man im «Time Magazine» lesen konnte: Die Kamera der Zukunft hat kaum mehr etwas mit den Knipsapparaten zu tun, mit denen wir aufgewachsen sind. Die Kamera der Zukunft sei eine App, sagt auch Taylor Davidson, der Start-ups berät und selbst fotografiert. Bei dieser App ist die Linse ebenso nebensächlich wie der Film oder Sensor und die Gesetze der Physik.

Diese Sichtweise ist nicht aus der Luft gegriffen, das beweist das neue iPhone 7. Es imitiert mit seinem Porträtmodus die Bildanmutung einer grossen Spiegelreflexkamera. Raffinierte Algorithmen machen die Limitation des winzig-kleinen Bildsensors wett. Das Resultat ist nicht perfekt – aber gut genug für die meisten Nutzer und viele Situationen.

Das neue iPhone und andere Smartphones beherrschen noch mehr Tricks: Sie kombinieren zwei Kameras zu einem virtuellen Objektiv, das viel kleiner ist, als es in echt sein könnte. Hersteller Light kombiniert bei der L16 geschlagene 16 kleine Kameraeinheiten. Je nach Aufnahmesituation werden bis zu 10 der 16 Module benutzt und deren Einzelbilder zu einer Aufnahme verschmolzen. Die Technik nennt der Hersteller «folded optics». Die «gefaltete Optik» ermöglicht Dinge, die die Gesetze der Optik eigentlich verbieten: eine Auflösung bis zu 52 MB, beste Qualität auch bei schlechtem Licht und die Möglichkeit, den Fokuspunkt in der fertigen Aufnahme zu verändern.

Fotos ohne Linse

Ob die L16 hält, was sie verspricht, lässt sich nicht abschliessend sagen, da die L16 bis jetzt nicht breit verfüg- und testbar ist. Doch selbst wenn die Kamera ein Flop sein sollte, wartet die nächste Revolution ums Eck. In Texas bauen Entwickler eine Kamera, die ganz ohne Objektiv auskommen will und entsprechend dünn ist wie ein Geldstück.

Die FlatCam greift das Prinzip des primitivsten aller fotografischen Geräte auf, der Lochkamera. Doch statt nur eines einzigen Lochs wie die Camera Obscura verwendet sie Millionen davon. Die werden in ein Stück Plastik gestochen, und der Plastik über einen lichtempfindlichen Sensor gelegt. Das macht den grossen Nachteil der Lochkamera wett, nämlich die Lichtschwäche.

Eine simple Idee, die bislang nicht realisierbar gewesen wäre. Das Problem: Die Millionen Bilder überlagern sich alle. Es braucht leistungsfähige Software-Algorithmen, um sie zu trennen und zu einem einzigen scharfen Bild zu verarbeiten. Das ist heute möglich – und offenbar fast beliebig skalierbar. Richard Baraniuk von der Rice University in Houston gab sich gegenüber dem amerikanischen Radio NPR überzeugt, das werde das Kameradesign radikal verändern: «Man könnte beispielsweise eine Tapete machen, die eine ganze Wand abdeckt.» Eine solche Kamera könnte einen ganzen Raum und jeden versteckten Winkel abbilden.

Objektivfehler schöngerechnet

Diese fotografische Revolution wird von manchen auch «Computational Photography» genannt, wobei sich bislang noch keine deutsche Umschreibung eingebürgert hat. Trotzdem ist das Phänomen schon weit verbreitet. Schon 2012 fiel Gary Friedman, einem Fachbuchautor auf, dass das Objektiv der Sony Cyber-Shot RX-100 eine extrem verzerrte Abbildung liefert. Und obwohl Carl Zeiss «der Rolls-Royce unter den Herstellern optischer Instrumente» sei, habe Sony sehr viele Abstriche eingefordert. Diese seien notwendig, weil sich sonst eine Kamera niemals hätte so kompakt bauen lassen. Die Nutzer der Kamera merken von diesem Trick nichts. Die Software der Kamera bügelt die Verzeichnungen stillschweigend aus.

Kluge Software macht schon heute die Mankos der Kameras, Objektive und Fotografen wett. Die Algorithmen machen Bilder farbiger und schärfer. Sie zaubern Bildrauschen weg, und sie verwerfen bei Bildserien automatisch jene Aufnahmen, bei denen die abgebildeten Personen die Augen geschlossen haben oder eine saure Miene machen. Es gab auch schon Hersteller, die eine Verschlankungsfunktion direkt in die Kamera eingebaut haben – damit man schon beim Drücken des Auslösers ein paar Kilos verliert.

Billionen von Bildpunkten

Nett – doch die Computational Photography läuft dann zur Hochform auf, wenn es darum geht, die Grenzen der Physik zu sprengen. Durch Verschmelzen Dutzender oder Hunderter Aufnahmen lassen sich Panoramas in nahezu beliebiger Grösse und Detailgenauigkeit errechnen. Bis vor kurzem beeindruckten uns Gigapixel-Bilder: Fotos aus Milliarden von Bildpunkten. Inzwischen gibt es Terapixel-Aufnahmen, die aus Billionen Pixeln bestehen. HDR-Aufnahmen vergrössern den Kontrastumfang zwischen den hellsten und dunkelsten Bildbereichen. Beim Focus Stacking wird durch Kombination von Aufnahmen der Schärfentiefebereich erweitert, was vor allem in der Makrofotografie optisch unmögliche Resultate bringt.

Shree K. Nayar von der Columbia University, laut der «New York Times» ein Verfechter der algorithmusgetriebenen Fotografie, hat noch andere Ideen. Er stellt sich einen Sensor vor, der seine Betriebsenergie aus dem Licht bezieht, das auf ihn fällt, wie eine Solarzelle.

Die Kamera, die während 170 Jahren getreulich zwischen dem Objekt und seiner Abbildung vermittelt hat, wird der technischen Entwicklung zum Opfer fallen, so sieht es auch Marc Levoy, der als Informatikprofessor an der Stanford-Universität lehrt. In einer Rede am Los Angeles County Museum of Art sagte er: «Ausser im Fotojournalismus wird es so etwas wie die unverfälschte Fotografie nicht mehr geben. Alles wird ein Amalgam, eine Interpretation, eine Verbesserung oder eine Variation sein.»

Die reine Fotografie ist vorbei

Macht diese Entwicklung auch Angst? Uli Staiger ist Fotograf und bekannt für seine Photoshop-Bildmontagen, in denen er aus vielen Versatzstücken surrealistische Szenen baut – und die ihn zu einem Experten für Bilder machen, die die Wirklichkeit verfremden und neu erschaffen. Die Entwicklung werde dazu beitragen, dass die Rolle der Fotografie ein weiteres Mal hinterfragt, oder, für manche, regelrecht erschüttert werde, sagt Staiger. «Einmal mehr wird es Leute geben, die verkünden, dass man einer Fotografie nicht trauen dürfe. Aber das durfte man auch schon vor über 170 Jahren nicht.»

Doch was Staiger nicht haben will, ist ein Algorithmus, der massiv in die Bildwirkung eingreift und sich vom Anwender nicht mehr kontrollieren oder zähmen lässt: «Dann steuern wir auf eine Perfektion in der Bildwiedergabe hin, die mit der Realität nicht mehr viel gemein hat.»

Computational photography – was Foto-Apps heute können

Raffinierte Bild-Algorithmen machen Dinge möglich, die der Physik und Optik zuwiderlaufen.

Focus Stacking. Eine Schmetterlingsraupe, frontal fotografiert. Damit die Aufnahme bis zu den Spitzen der Härchen scharf ist, wurden 104 Fotos kombiniert.Bild: Gilles San Martin

Der Portrait-Effekt. Das iPhone 7 imitiert den schmalen Schärfentiefebereich einer Spiegelreflexkamera … Bild: Rafael Zeier

Die Software machts. … doch wie dieses Originalfoto zeigt, wird der unscharfe Hintergrund künstlich erzeugt. Bild: Rafael Zeier

Light L16. Diese Kamera hat 16 Aufnahmeeinheiten, von denen je nach Aufnahmesituation bis zu 10 zum Einsatz kommen. Damit lassen sich die Limiten der Optik sprengen. Zum Beispiel … Bild: light.co

Nachträglich fokussieren. … lässt sich die Schärfentiefe nachträglich anpassen. Bild: light.co

So flach wie eine Münze. Der FlatCam nimmt das Prinzip der Camera Obscura auf und kommt ohne Optik aus.

Dynamisch und kontrastreich. Bei HDR-Aufnahmen werden mehrere unterschiedlich belichtete Bilder verschmolzen. So lassen sich auch extreme Helligkeitsunterschiede ausgleichen. Bild: Matthias Schüssler

Giga- und Terapixel. Auf den ersten Blick eine ganz normale Fotografie, … Bild: terapixel.eu

Immer näher heran. … bei der man jede einzelne Schraube und Niete der Dampflok heranzoomen kann. Bild: terapixel.eu

Die ganze Umgebung fotografieren. Google Street View ist auch eine Foto-App – und zwar eine, die die Umgebung rundherum, als 360°-Panorama, abbilden kann. Bild: schü.

Vorne scharf. Mit der App Fokus Pokus lässt sich der Fokuspunkt nachträglich vom Vordergrund … Bild: schü.

Hinten scharf. … in den Hintergrund verschieben. Bild: schü.

Bereit für den 3D-Drucker. 123D Catch macht aus fotografierten Gegenständen dreidimensionale Modelle, die sich als Objekt ausdrucken oder per Laser fräsen lassen.

Maschinelles Lernen. Simple Effekte sind längst passé. Apps wie hier Prisma imitieren mittels maschinellem Lernen die Mal- und Zeichenstile vieler Künstler. Bild: Rafael Zeier/schü.

Virtueller Waldmensch. Diese gruselige Gestalt aus Laub und Wald ist der softwaremässige Versuch, zwei völlig unterschiedliche Motive zu verschmelzen … Bild: Rafael Zeier/schü.

Bilder verschmelzen. … die App Pikazo verwendet ein Porträtfoto (links unten) und zeichnet es mit einer Aufnahme des Zürichsees vom Uetliberg her nach (rechts unten). Bild: schü.

Besser als die Realität

Apps für unglaubliche Fotos

Pro HDR (2 Franken, iPhone und Android) verschmilzt zwei unterschiedlich belichtete Aufnahmen. Bei Situationen mit grossen Helligkeitsunterschieden – beim Sonnenuntergang, in der nächtlichen Stadt, bei hellen Landschaften ergibt das dramatische, kontrastreiche Fotos.

Google Street View (kostenlos, iPhone, Android) erzeugt Panorama-Aufnahmen aus einzelnen Aufnahmen. Mit genügend Geduld bildet man so die ganze, von einem Punkt aus sichtbare Umgebung ab.

Fokus Pokus (1 Franken, iPhone) kombiniert mehrere Aufnahmen mit unterschiedlichen Schärfeeinstellungen zu einem Bild, bei dem man nachträglich das gewünschte Objekt scharfstellen kann. CombineZ ermöglicht das Focus Stacking unter Windows (kostenlos). Für Mac und Windows steht Helicon Focus zur Verfügung (ab 30 Dollar).

123D Catch (kostenlos, iPhone und Android) erzeugt aus vielen Einzelaufnahmen ein dreidimensionales Modell des fotografierten Gegenstandes. Dieses Modell lässt sich am Bildschirm frei drehen, in professionellen Modelling-Programmen verwenden und sogar mit einem 3D-Drucker drucken.

Prisma (kostenlos für iPhone und Android) ist eine App, die mittels maschinellem Lernen den Malstil diverser Künstler imitiert, zum Beispiel Munch, Mondrian oder Lichtenstein. Das gleiche versuchen auch Dreamscope (gratis, iPhone) und Mlvch (gratis, Android, iPhone).

Pikazo (konstenlos, iPhone) versieht ein Foto mit einem Stil. Der Stil kann ein Gemälde eines Künstlers, aber auch ein anderes Foto oder eine Skizze sein. Kombiniert man ein Portrait und eine Landschaftsaufnahme, entsteht ein skurriles Laubwesen. (schü.)

Quelle: Newsnetz, Dienstag, 4. Oktober 2016

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