Eugene Goostman Die Softwareschöpfung hat den Turing-Test bestanden. Ein Meilenstein in der Informatik.

Seine Intelligenz hat noch Kinderkrankheiten

Von Matthias Schüssler

Eugene Goostman ist ein aufgeweckter 13-jähriger Junge aus der ukrainischen Hafenstadt Odessa. Eugene besitzt ein Meerschweinchen namens Bill und neigt zu frühreifem Sarkasmus. Er spielt gerne Rennspiele am PC und geht Fragen zur politischen Situation in seinem Land lieber aus dem Weg.

Sein Talent für charmante Ausflüchte und geschickt platzierte Gegenfragen hat Goostman einen grossen Triumph eingebracht: Er hat soeben als virtuelles Geschöpf den Turing-Test für sich entschieden. Die Prüfung stammt von Alan Turing, dem Vater der Informatik. Der Brite hat sich 1950 überlegt, wie der Beweis für künstliche Intelligenz aussehen müsste. Das Hauptkriterium: Ein Programm gilt dann als intelligent, wenn es beim Chatten mit einem menschlichen Gegenüber nicht als Maschine erkannt wird.

Programmiert wurde Eugene Goostman von den Russen Wladimir Weselow und Sergei Ulasen sowie dem Ukrainer Eugene Demchenko. Bereits wird Kritik an den drei «Vätern» laut. Sie hätten beim Test geschummelt, indem sie ihrer digitalen Schöpfung die Identität eines Teenagers verpassten. Auf diese Weise hätten sie die anderen Chatteilnehmer dazu gebracht, über die Verständnislücken und Sprunghaftigkeit von Eugene hinwegzusehen.

Der Geist in der Maschine ist also noch minderjährig. Doch wie wird sich unsere Welt verändern, wenn Eugene der Kinderstube entwachsen ist? Sicher wird er sich zu einem verlässlichen digitalen Assistenten mausern. Google Now, Apple Siri und Microsoft Cortana sind heute noch Gimmicks. Wenn sie weiterhin Fortschritte machen, werden wir uns noch so gerne von ihnen bei der Organisation unseres Alltags helfen lassen. Eugene und seine Artgenossen werden auch Sprachbarrieren verschwinden lassen. Microsoft hat vor zwei Wochen Skype Translator vorgeführt. Ein digitaler Dienst, der als Simultanübersetzer bei Onlinetelefonaten zwischen englisch- und deutschsprachigen Gesprächspartnern vermittelte. Und da ist auch Samantha West, Kundenberaterin bei der Hotline eines US-Gesundheitsdienstleisters. Die Softwarefigur ruft Leute an, um Krankenkassen-Prämienvergleiche anzubringen. Auf die Frage, ob sie ein Telefonroboter sei, antwortet Samantha: «Nein, ich bin ein echter Mensch.» Der Betreiber des Dienstes sagte dem «Time Magazine», Samantha werde von einem «echten» Mitarbeiter gesteuert. Möglich ist aber auch, dass die künstlichen Intelligenzen bereits das Lügen erlernt haben.

Für die meisten Forscher im Bereich der künstlichen Intelligenz stellt sich nicht die Frage, ob der Computer den Menschen mit seinen intellektuellen Fähigkeiten einholen wird, sondern wann. Dieser Moment wird «technische Singularität» genannt und von Optimisten wie dem Futuristen Ray Kurzweil geradezu herbeigesehnt. Er hofft, vor seinem Tod den Inhalt seines Gehirns in ein neuronales Netzwerk hochladen zu können: ewiges Leben dank Siliziumschaltkreisen.

Geht es nach dem Autor James Barrat, dann bedeutet Eugene der Anfang unseres Endes. In seinem Buch «Our Final Invention» sieht er die unvermeidliche Entwicklung zur Superintelligenz voraus. Das ist ein Dasein, das über das Wissen von Google und Wikipedia verfügt und sich selber programmiert. Und das die Menschheit nicht mehr nötig hat.

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 11. Juni 2014

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