«Die lokalen Buchhändler werden vom E-Book-Markt ausgeschlossen»

Christoph Bläsi hat den Markt für elektronische Bücher untersucht. Das Fazit des Wissenschaftlers: Es fehlt an Offenheit.

Mit Christoph Bläsi sprach Matthias Schüssler

In der Studie «Zur Interoperabilität von E-Book-Formaten» kommen Sie zum Schluss, dass viele E-Books an ein Gerät gekoppelt sind und auf dem Gerät eines anderen Anbieters nicht gelesen werden können. Warum ist das ein Problem?

Da gibt es verschiedene Ansatzpunkte der Beurteilung. Ein wichtiger Punkt ist jener der kulturellen Diversität. Wir wissen durch Auswertungen, dass das Buchangebot bei Apple und Amazon verschieden ist. Wenn ich als Kunde gezwungen werde, mich auf eine Plattform festzulegen, gibt es Bücher, die ich für diese Plattform nicht kaufen kann.

Wo fallen die Unterschiede besonders ins Gewicht?

Ein Aggregator – also ein Unternehmen, das zwischen den Verlagen und den Händlern steht – hat uns gesagt, dass der durchschnittliche Preis eines Reiseführers bei Amazon zwischen 2 und 3 Euro liegt, während er bei Apple über 10 Euro beträgt. Das ist – gegeben die Preisbindung – ein deutlicher Hinweis, dass verschiedene Produkte gehandelt werden.

Was heisst das für die klassischen Buchläden?

Die lokalen Buchhändler bleiben zwangsweise aussen vor, weil sie die Produkte von Apple und Amazon nicht anbieten können. Sie werden, wenn es so weitergeht, praktisch ganz aus dem E-Book-Markt ausgeschlossen. Das ist einer der Gründe, weshalb wir von der europäischen Buchhändlervereinigung mit dieser Studie beauftragt wurden.

Die deutschsprachigen Buchhändler bringen ein eigenes Lesegerät auf den Markt. Der Tolino soll diesem Problem entgegenwirken. Haben Sie es auch untersucht?

Es kam auf den Markt, als wir an der Studie geschrieben haben. Der Tolino ist ein Versuch, im deutschen Buchmarkt, der von zwei US-Konzernen dominiert wird, die Kräfte zu bündeln. Der Tolino kann zeigen, dass eine offene Strategie auch funktioniert. Ob er gegen international tätige Unternehmen etwas ausrichten kann, bleibt die Frage. Aber der Tolino ist sicher eine von nicht allzu vielen verbliebenen Optionen, wenn man nicht über die Gesetze eingreifen will.

Ist der Tolino ein Beispiel für Offenheit?

Die Bücher auf dem Tolino sind nicht plattformgebunden. Das Gerät bedient die offenen Formate Epub2 und Epub3. Aber die eigenen Formate von Apple und Amazon sind nicht die einzigen Hürden für eine Interoperabilität.

Welche gibt es noch?

Man kann bei den amerikanischen Kollegen sehr komfortabel Bücher bestellen – das bindet Kunden. Zudem gibt es rechtliche Beschränkungen: Selbst wenn es durch einen Hack gelingt, dürfen Bücher nicht anderswo verwendet werden. Und es gibt den restriktiven Kopierschutz, das Digital Rights Management (DRM). Ein DRM verwendet auch der Tolino, wenn es der Verlag wünscht.

Was bedeutet das für die Leser?

Ein Buch ist nicht wirklich offen. Ich kann es nicht vom Lesegerät auf den PC ziehen und dort weiterlesen. Die meisten Verlage geben ihre Bücher nur dann für den E-Book-Vertrieb frei, wenn ein restriktives DRM angewendet wird. Solange die Verlage so denken, stösst die Offenheit schnell an Grenzen.

Haben Sie Verständnis für die Angst der Verlage vor Piraterie?

Ja, das habe ich. Und ich habe ebenso Verständnis für die Gegenargumente, die sich für eine offene Wissensgesellschaft einsetzen. Zudem kenne ich Marktsegmente, in denen es durch Premium-Angebote oder guten Service möglich wurde, DRM-Massnahmen abzuschaffen. Aber ich verstehe die Ängste der Verlage.

Sie könnten mit dem DRM leben – aber beim Format müsste man sich einig werden?

Genau. Die Entscheidung über das Format liegt in der Macht der Vertriebsunternehmen und hat nichts mit den Verlagen und der Gesetzeslage zu tun.Nun bindet auch das DRM die Kunden an die abgeschirmten Welten. Viele Leser würden gewisse Beschränkungen wahrscheinlich akzeptieren. Zum Beispiel, dass sie ein bei Apple gekauftes Buch nur auf drei Geräten lesen dürften – wenn eines dieser Geräte auch ein Nicht-Apple-Gerät sein dürfte. Zu wünschen wären nicht nur interoperable Formatstandards, sondern auch ein interoperables DRM. Das gibt es noch nicht.

Adobe bietet mit Digital Editions ein solches System an.

Das wäre eine Möglichkeit. Dieses System wird auch beim Tolino verwendet. Allerdings steht auch hier eine einzelne Firma dahinter: Adobe. Viele Benutzer berichten, Digital Editions sei extrem unzuverlässig. Das DRM bei Apple und Amazon ist unsichtbar, der Kunde bekommt davon gar nichts mit – so sollte das laufen.

Was fordern Sie?

Es wäre eine gute Idee, so etwas wie den Tolino auf europäischer Ebene zu versuchen und auch in diesem Punkt mit kultureller Diversität Ernst zu machen. Das würde jedoch erfordern, dass auch die ganz grossen Anbieter mitmachen – und damit ihre Geschäftsbeziehungen mit Amazon und Apple aufs Spiel setzen. Die Selbstorganisation der nationalen und europäischen Branche kann auch deswegen nicht richtig funktionieren, weil die Grossen mit Amazon und Apple relativ gut leben.

Wie stehen Sie zu Gesetzen, welche Diversität einfordern?

Mit Gesetzen zu reagieren, halte ich nicht für angemessen, und eine «Lex Amazon», könnte von US-Unternehmen – nachvollziehbar – als Protektionismus verstanden werden. Aber vielleicht bin ich auch naiv, und man wird irgendwann feststellen, dass der «Durchmarsch» von Amazon der Anfang vom Ende der Buchkultur war.

Wie soll sich ein Bücherfreund verhalten? Weiterhin gedruckte Bücher kaufen? Oder je ein Gerät von jedem Anbieter kaufen?

Wenn man an das Gute im Menschen glaubt, könnte man auf Benutzererziehung setzen und den Kunden sagen: Achtung, wenn ihr euch in den goldenen Käfig sperren lasst, dann hat das für die Buchkultur, für euch selbst oder spätestens für eure Kinder negative Folgen. Aber das wird in der Breite nicht funktionieren, wie Beispiele aus dem ökologischen Bereich zeigen. Wenn man sich für einen offenen E-Reader zum Beispiel von Sony entscheidet – Tolino ist ja nicht der einzige –, offene Bücher kauft und Komforteinbussen in Kauf nimmt, dann werden die digitalen Bücher auf verschiedenen Geräten und damit auf Dauer nutzbar sein.

Glauben Sie an den zivilen Ungehorsam? Dass die Nutzer das DRM aushebeln und sich ihr Recht erzwingen?

Das wäre illegal – auch wenn es einfach machbar ist, weil man die entsprechende Software überall herunterladen kann. Der typische Nutzer von E-Book-Readern ist eher älter, gesetzter und schon deswegen nicht unbedingt auf Illegales aus. Anders als bei der Musik, wo es damals gar kein legales Angebot gab, kann auch keiner behaupten, es gebe Bücher als E-Books nicht. Es ist ein interessanter Gedanke, aber von den Vertretern der Branche würde das als Kapitalverbrechen eingestuft.

Sie haben vom möglichen Ende der Bücherkultur gesprochen. Dazu könnte auch das Ende der Bibliothek zählen. Elektronische Bücher lassen sich kaum ausleihen.

Wenn jemand bislang vor allem deswegen in die Bibliothek gegangen ist, weil er sich Bücher nicht leisten kann, ist ein Problembereich angesprochen. Dieser Fall müsste abgefedert werden – mir sind allerdings noch keine entsprechenden Vorschläge bekannt. Für alle anderen wird es Möglichkeiten wie die Nutzung auf Zeit geben, beispielsweise in Form von Flatrate-Streaming-Diensten oder mit Skoobe.de. Bleibt der Fall des Ausleihens unter Freunden.

Ein Problem liegt auch in der Weitergabe über Generationen hinweg. Die digitale Musiksammlung darf nicht vererbt werden – das könnte auch bei den Büchern der Fall sein.

Die Nachhaltigkeit ist ein echtes Problem – nicht nur aus kulturpflegerischer Sicht. Wenn man digitale Bücher kauft, kann einem niemand garantieren, dass man die in 20 Jahren mit allen Anmerkungen und Social-Reading-Spuren überhaupt noch lesen kann. Dass E-Books nicht vererbt werden können, darf keinesfalls so bleiben.

Weshalb nicht?

Wenn ich bei einem E-Book nur eine Lizenz kaufe, die mit meinem Tod erlischt, frage ich mich natürlich, weshalb ich für ein virtuelles Produkt tendenziell so viel wie für ein gedrucktes Buch bezahlen soll.

«Ein elektronisches Buch ist nicht wirklich offen», sagt Christoph Bläsi. Foto: iStockphoto

Christoph Bläsi

Der Professor für Buchwissenschaft an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz forscht zum digitalen Publizieren.

Quelle: Tages-Anzeiger, Montag, 12. August 2013

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