Aus dem fotografischen Trott ausbrechen

Zeitraffer, Panoramabilder, Makros oder HDR: Spannende Fototechniken lassen sich auch ohne teures Equipment praktizieren.

Von Matthias Schüssler

Wer die Perspektive wechselt, dem erschliessen sich neue Horizonte. Als Rat im Bereich der Lebenshilfe wirkt dieser Satz gar abgedroschen. Doch bei der Fotografie trifft er voll ins Schwarze. Der wortwörtliche neue Blickwinkel und ungewöhnliche Techniken sind gute Verbündete auf der Jagd nach überraschenden Aufnahmen. Extrazubehör braucht es für kreatives Fotografieren nur in den wenigsten Fällen. Die nötigen Funktionen sind oft schon eingebaut. Und selbst per Smartphone kann man sie praktizieren: Natürlich gibt es für fast jeden Trick auch eine Kamera-App.

Camera Tossing. Ganz automatisch ungewöhnliche Perspektiven entstehen beim Kamerawerfen. Man startet den Selbstauslöser und wirft kurz vor dem Auslösen die Kamera in die Luft. Ryan Gallagher hat die «kinetische Fotografie» vor fünf Jahren populär gemacht. In glücklichen Fällen entsteht mit ihr ein überraschendes Selbstporträt oder ein lustiges Bild aus der Vogelperspektive. Natürlich eignet sich eine leichte Kompaktkamera besser als die schwere Spiegelreflex. Wer sich das Auffangen nicht zutraut, kann die Kamera auf ein (günstiges) Einbeinstativ schrauben und sie in erhöhte Positionen bringen oder über Abgründe schweben lassen.

Die App mit Selbstauslöser heisst Auto Cam (kostenlos im App Store).

HDR. Das Kürzel HDR steht für «High Dynamic Range». Der dynamische Umfang bezeichnet den Unterschied zwischen den hellsten und dunkelsten Partien. Er ist technisch begrenzt, kann aber erweitert werden, indem zwei oder mehr unterschiedlich belichtete Aufnahmen zusammengerechnet werden. Durch «Tone Mapping» wird der grosse Dynamikumfang wieder auf den normalen Umfang reduziert.

Comic-artig und surreal

HDR nivelliert Helligkeitsunterschiede und korrigiert über- oder unterbelichtete Bildbereiche. Man setzt die Technik bei Gegenlichtaufnahmen, bei Kontrasten zwischen Sonne und Schatten oder zwischen Innen- und Aussenräumen ein. Die Aufnahmen widersprechen normalen Sehgewohnheiten und wirken überraschend und exotisch. Man kann den Effekt dezent einsetzen, damit Bilder «knackig» wirken. Oder man treibt ihn auf die Spitze und erhält einen comic-artigen, surrealen Look.

Für ein HDR-Bild benötigt man eine Kamera, die Belichtungsreihen schiesst, und eine Software zum Zusammenfügen und Berechnen des Tone Mapping. Die meisten Spiegelreflex- und gute Kompaktkameras verfügen über einen Belichtungsreihen-Modus. Eine kostenlose Software für Windows und Mac ist Luminance HDR (qtpfsgui.sourceforge.net).

Die passende iPhone-Kamera-App heisst HDR Fusion (2 Fr.). Sie erledigt alle Arbeitsschritte vollautomatisch.

Makrofotografie. Insekten und andere Kleinlebewesen fotografisch zu jagen oder einen Wassertropfen ins Bild zu rücken, ist spannend und schärft den Blick fürs Detail. Ein Makroobjektiv für die Spiegelreflexkamera ist komfortabel – am besten wählt man Tele mit Makrobereich, weil man damit Insekten aus der Distanz fotografiert, ohne sie zu vertreiben –, aber nicht unbedingt nötig. Zwischenringe machen aus fast jedem Objektiv ein Makroobjektiv, und sie sind für relativ wenig Geld erhältlich. Es existieren auch Nahlinsen, die man aufs Filtergewinde schraubt. Oder man hält ein Objektiv verkehrt herum vor die Kamera. Das funktioniert, ist aber eine wacklige Angelegenheit. Stabiler wird das Arbeiten mit einem Umkehrring oder Retroadapter. Mit seiner Hilfe wird das Objektiv mit dem Filtergewinde auf die Kamera aufgesetzt. Dafür nimmt man am besten ein altes Objektiv, um Beschädigungen am Bajonett zu vermeiden.

Mit dem iPhone fotografiert man Makros durch eine billige Lupe hindurch.

Panoramen. Ein Panorama ist ein aus mehreren Aufnahmen zusammengesetztes Bild, das horizontal oder vertikal einen besonders grossen Betrachtungswinkel zeigt. Viele Kameras, selbst die günstigen Kompakten, stellen einen Panorama-Modus zur Verfügung. Er hilft, die Fotos mit so viel Überlappung zu knipsen, dass sie nahtlos aneinandergesetzt werden können. Dieser Vorgang erfolgt am Computer. Photoshop Elements von Adobe stellt die Funktion Photomerge zur Verfügung. Ein hervorragendes Programm für Windows stammt von Microsoft Research und heisst Image Composite Editor (ICE). Es ist kostenlos unter research.microsoft.com zu finden. Auf Mac und Windows puzzelt Hugin (hugin.sourceforge.net) Einzelfotos zum Panorama.

Panorama in Kugelform

Hugin beherrscht auch Kugelpanoramen. Das ist eine spezielle Projektionsart für Panoramen, die einen 360-Grad-Rundumblick bieten. Sie projiziert das Bild kreisförmig um einen Mittelpunkt. Das Resultat ist eine Art Miniplanet, bestehend aus der im Panorama abgebildeten Szenerie. Kugelpanoramen lösen mit Garantie beim Betrachter einen Wow!-Effekt aus, machen aber auch etwas Arbeit. Schneller geht es mit Panorama-Apps fürs Smartphone. Eine der verblüffendsten Apps ist Photosynth von Microsoft (kostenlos fürs iPhone im App-Store). Sie puzzelt die Einzelfotos während der Aufnahme zusammen, weil sie dank der Lagesensoren des Telefons feststellt, wie die Anordnung zu erfolgen hat. Das fertige Bild kann ab iPhone bei Facebook oder bei Photosynth.net hochgeladen werden. Auf der Microsoft- Website bewegt man sich per Maus interaktiv durchs Panorama.

Langzeitbelichtungen und Zeitraffer. Auch das sind zwei fotografische Disziplinen, die man aus der analogen Zeit kennt, die digital aber komfortabler möglich sind. Manche Digitalkameras, wie zum Beispiel die D7000 von Nikon, haben einen eingebauten Intervall-Timer. Mit ihm programmiert man Aufnahmezyklen, die die Kamera über eine vorgegebene Dauer und in bestimmten Intervallen selbst auslöst. Die Fotoserie wird in einem Videoschnittprogramm zum Zeitrafferfilm zusammengefügt.

Die Hackersoftware hilft

Im Fachhandel existieren externe Auslöser mit Intervall-Timer. Kompaktkameras von Canon können sehr oft über das Canon Hacker Development Kit (CHDK) für Zeitintervallaufnahmen programmiert werden. CHDK ist eine (gefahrlos zu verwendende) alternative Kamera-Software aus Opensource-Kreisen, die viele zusätzliche Kreativfunktionen zur Verfügung stellt (chdk.wikia.com). iPhone-Besitzer greifen zur App TimeLapse (2 Fr.). Sie passt die Länge eines Zeitrafferfilms auf Wunsch dem unterlegten Musikstück an.

Wichtig für Intervallaufnahmen ist ein Stativ und ein Plätzchen, auf dem die Kamera geschützt aufgebaut wird.

Langzeitbelichtungen. Sie sind mit vielen Kameras möglich, und man braucht auch hierfür das Stativ. Längere Belichtungszeiten lassen in Nachtaufnahmen den Fluss der Zeit erahnen, indem die Fahrzeuge oder die Sterne Lichtspuren hinterlassen. Man kann mit einer Lichtquelle auch selbst Spuren erzeugen – das nennt sich Lichtmalerei.

Mit einem Graufilter sind tagsüber längere Belichtungszeiten möglich. Fliessendes Wasser wird zum Teppich oder Vorhang und Menschenmengen zu wolkigen Gebilden, auch das ungewöhnliche Seherlebnisse. Per App sind lange Belichtungen nur bedingt möglich: mit NightCap immerhin bis zu 1 Sekunde.

Die iPhone-App HDR Fusion geht geschickt mit Gegenlicht um – wie bei dieser Szenerie aus Winterthur. Foto: Matthias Schüssler

Quelle: Tages-Anzeiger, Montag, 23. Januar 2012

Rubrik und Tags:

Faksimile
120123 Seite 40.pdf

Die Faksimile-Dateien stehen nur bei Artikeln zur Verfügung, die vor mindestens 15 Jahren erschienen sind.

Metadaten
Thema: Aufmacher
Nr: 10191
Ausgabe:
Anzahl Subthemen: 1

Obsolete Datenfelder
Bilder: 1
Textlänge: 600
Ort:
Tabb: WAHR