Business-Publishing mit Ragtime 5.6

Gute Zeiten für die «Käseblattproduktion»

Ragtime ist keine Kampfansage an QuarkXPress oder InDesign. Aber ein echter Geheimtipp für alle halbprofessionellen Layouter, die Kunden-Newsletters, einer Lizenziatsarbeit oder privaten Drucksachen Form verleihen wollen.

MATTHIAS SCHÜSSLER Gestandene Layouter haben in aller Regel nur ein müdes Lächeln für Kollegen aus dem Amateurlager übrig. Klar; wer Berufsstolz hat, fraternisiert nicht mit dem DTP-Pöbel. Doch das Desktop-Publishing ist eine demokratische Sache; und das ist gut so. Dank Apple und Aldus müssen Studenten ihre Lizenziats­arbeit nicht auf einer klapprigen Schreibmaschine mit ausgeleiertem Farbband tippen. Wegen der zunehmenden Verbreitung von PC und Digitalkamera gibt es keinen Grund, dass Firmen-Newsletters Textwüsten sind. Und wenn Fotos ins Spiel kommen, dann liegt der Einsatz einer Layoutsoftware nahe – sei es aus defensiven Gründen, weil das Textverarbeitungsprogramm nicht vernünftig mit Bildern umgehen kann; sei es, weil man sich nicht lumpen lassen will. Es muss nicht immer Winword sein.

Wie wenig die Anwender mit Microsofts Textprogramm ihren gestalterischen Ideen Ausdruck verleihen können, zeigte sich vor kurzem: Als der «Tages-Anzeiger» Ragtime 5.6 Private als Alternative vorstellte, gingen beim Schweizer Distributor SCS Solid in weniger als zwei Tagen rund 150 Bestellungen ein. Franz J. Preuss, Inhaber von SCS Solid, ergänzt: «Fast jedes zweite E-Mail, welches uns erreichte, sprach von den Ärgernissen mit Win­word und dass mit Ragtime dieses endlich ein Ende hätte».

Der Preis fetzt!

Ob mit Ragtime die Zeit der «Käseblätter» vorbei ist oder erst kommt, muss jeder Anwender selbst klären – zwar bedeutet das englische Wort «rag» neben «Fetzen» oder «Lumpen» in der Umgangssprache auch «Käseblatt», der Begriff «Ragtime» bezeichnet aber auch die Musikrichtung, welche als Vorläufer des Jazz gilt. Was auch immer die richtige Namensdeutung sein mag – Ragtime ist eine gute Ausweichmöglichkeit, wenn Winword an seine Grenzen stösst. Ragtime ist preislich attraktiv für Privatanwender oder Studenten: Wer die Software nichtkommerziell zu benützen gedenkt, kann sie gratis herunterladen oder für 25 Franken auf CD-ROM bestellen.

Die Software ist, anders als InDesign oder Quark­XPress, auf den halbprofessionellen Einsatz und das «Business Publishing» ausgerichtet. Damit steht Ragtime in Konkurrenz zum PageMaker, den Adobe seit dem Erscheinen von InDesign 1.0 ebenfalls in diesem Bereich ansiedelt.

Trotz der Gratisabgabe an Home-User mangelt es Ragtime an nichts. Als so genannte «All-in-One»-Lösung bietet Ragtime sogar einige Möglichkeiten, die man bei PageMaker vergeblich sucht. Etwa die integrierte Tabellenkalkulation: Mit ihr lässt sich direkt in der Satzdatei rechnen und ohne Exkursion zu Excel Diagramme erstellen. Auch der Tabellensatz ist ein Kinderspiel verglichen mit den Tricks, welche sich ein PageMaker-Anwender einfallen lassen muss, um eine Matrixdarstellung zu erhalten.

Wie QuarkXPress und InDesign ist auch Ragtime eine rahmenorientierte Layoutsoftware: Jeder Text, jede Grafik wird in eine Vektor-Ummantelung gepackt, welche die Grösse und die Position vorgibt. Rahmen heissen in Ragtime «Container», treten durch eine hellblaue, nicht druckende Umrisslinie in Erscheinung. Sie können nicht nur rechteckig, sondern auch rund oder oval sein oder eine Bézier-Freiform haben. Über eine Dropdown-Liste in der Werkzeugleiste wird bestimmt, ob der Rahmen Text, ein Rechenblatt, eine Infografik, ein Bild oder eine Zeichnung enthalten soll.

Da die Voreinstellung Text ist, braucht man nur in einen Rahmen zu klicken, um mit der Texterfassung beginnen zu können oder einen bestehenden Text zu importieren. Ragtime unterstützt die gängigsten Dateiformate, darunter natürlich die von MS Office und HTML. Der Rahmentyp «Zeichnung» ist für Vektorobjekte gedacht, mit ihm kann man Rahmen ineinander verschachteln. Soll eine Tabelle gesetzt werden, dann wählt man die Option «Rechenblatt», und für ein Diagramm ist «Infografik» die richtige Selektion. Die Option «Bild» erlaubt das Positionieren von Grafiken u.a. im TIFF- oder JPEG-Format. Beim Import ist Ragtime schlau genug, automatisch den für die gewählte Datei passenden Rahmentyp zu wählen; beim Öffnen einer TIFF-Datei kann man es sich sparen, die Einstellung auf «Bild» zu setzen.

«Info»-Dialoge habens in sich

Die Einstellungen zum Rahmen werden zum grössten Teil über das Dialogfenster «Zeichnungsinformationen» getroffen – um es anzuzeigen, einfach auf die blaue Rahmen-Umrisslinie doppelklicken oder bei markiertem Container Information wählen. Im Reiter «Objekte» wird die Konturenführung festgelegt (Option «Text umfliesst Objekt») und bei «Abstand» gibt man an, welche Distanz der verdrängte Text dabei wahren soll. Unter «Abstand vom Container» lässt sich umgekehrt definieren, wie nahe der Text innerhalb des Rahmens der Konturlinie kommen darf. Die Flächenfarbe des Containers wird im Reiter «Füllung» gewählt, die Umrisslinie unter «Linien». Die Einstellmöglichkeiten zu den Linien sind in Ragtime vorbildlich: Der Benutzer kann die Eckenform und die Gehrungsgrenze festlegen (diese Einstellung bewirkt, dass die Ecke zweier im spitzen Winkel aufeinander treffenden Linien abgerundet wird) und angeben, ob dicke Umrisslinien aussen auf die Kontur des Rahmens aufgetragen werden, nach innen ragen oder der Umrisslinie mittig folgen. Im Reiter «Koordinaten» des «Zeichnungsinformationen»-Fensters kann die Position eines Rahmens numerisch und damit exakt geseuert werden.

Analog zu den «Zeichnungsinformationen» gibts die «Textinformation». Wenn der Cursor in einem Textrahmen steht, werden über Informationen die textbezogenen Einstellungen getroffen. Im Reiter «Textränder» können nicht nur nützliche Funktionen wie die Ausrichtung am Textraster aktiviert werden, auch die Zahl der Spalten wird hier angegeben. Ja richtig: Diese Einstellung weist man in Ragtime nicht wie in anderen Layoutprogrammen dem Rahmen zu, sondern dem Abschnitt. Das ist im ersten Moment verwirrend, entpuppt sich aber als enorm praktisch: Will man in InDesign einen dreispaltigen Artikel setzen, dessen Überschrift über alle drei Spalten läuft, dann braucht man dazu zwei Textrahmen: Einen einspaltigen für die Überschrift und einen zweiten, welche die drei Spalten des Artikels beherbergt. In Ragtime dagegen reicht ein Textrahmen, weil die Spaltigkeit über die Absatzformatierung zugewiesen wird. Mit den richtigen Absatzformaten layoutet sich ein solcher Artikel beim Positionieren des Textes gewissermassen von selbst. Und beim Redigieren bringts zusätzliche Flexibilität: Entscheidet sich der Redakteur, anstelle des zweizeiligen Titels doch nur eine Zeile zu setzen, dann rückt der Artikeltext unverzüglich in den frei werdenden Raum auf. Als einzige manuelle Layoutanpassung muss die Rahmenhöhe angeglichen werden (siehe Screens oben).

Maus sorgt für Verbindung

In Ragtime hat Drag&Drop einen grossen Stellenwert. So können Bilder per Ziehen und Ablegen direkt aus dem Explorer oder dem Finder positioniert werden. Aber auch die Verknüpfung mehrerer Rahmen geschieht via Maus. Damit überschüssiger Text von einem Rahmen auf den nächsten «überspringen» kann, benützt man das Pipeline-Werkzeug, klickt den ersten Rahmen an, hält die linke Maustaste gedrückt und zeigt auf den Rahmen, der den Überlauf aufnehmen soll.

Das ist nicht alles; auch Tabellen werden via Drag&Drop mit ihrer grafischen Repräsentation verknüpft. Hat man mittels Rechenblatt Zahlenmaterial im Layout untergebracht und möchte dieses auch als Diagramm darstellen, dann legt man dafür einen Rahmen an, weist ihm den Typ «Infografik» zu und zieht die umzusetzenden Zahlen mit der Maus vom Rechenblatt auf den eben erzeugten Container. Darauf wird Ragtime das Fenster «Galerie» anzeigen, das verschiedene Diagrammtypen anbietet. Drag&Drop funktioniert sogar zwischen verschiedenen Dateien, sodass das Zahlenmaterial und die Grafik nicht umbedingt im gleichen Dokument untergebracht werden müssen. Und natürlich bleibt die Verbindung von Rechenblatt und Infografik bestehen, sodass jede Änderung in der Tabelle eine sofortige Aktualisierung der Balken, Säulen oder Kuchendarstellung bewirkt.

Kleiner Ressourcenhunger

Hat der Layouter ein Bild im Layout platziert, dann werden die Einstellungen des Bildercontainers über den Befehl Informationen getroffen. Unter «Allgemein» kann man dem Bild ein ICC-Profil zuweisen und unter «Anordnung» lässt sich die Qualität der Bildschirmdarstellung festlegen – Ragtime läuft dank eher bescheidenen Ressourceansprüchen auch auf älteren Rechnern, und mit der Option «Minimaler Speicherbedarf» bringen auch die positionierten Bilder die Arbeitsstation nicht in Bedrängnis.

Wird ein Bildcontainer skaliert, dann passt Ragtime das Bild unter Wahrung der Proportionen in den Rahmen ein. Möchte man das Bild unproportional in den Rahmen einpassen, dann wählt man den Befehl Bild an Container anpassen. Umgekehrt gleicht das Kommando Container an Bild anpassen die Masse des Containers an die der platzierten Grafik an – InDesign-Anwender kennen diese Vorgehensweise bestens. Der Befehl Container und Inhalt gekoppelt dient der Beschneidung von Fotos. Entfernt man das Häkchen, behält das Bild seine Skalierung, wenn der Layouter die Grösse des Rahmens ändert. So lässt sich ein Ausschnitt bestimmen – um den sichtbaren Ausschnitt innerhalb der Containers zu verschieben, benützen Sie die Pfeiltasten.

Die Qual der Wahl …

Fazit: Ragtime ist eine leistungsfähige Layoutsoftware, die in manchen Bereichen den direkten Konkurrenten PageMaker hinter sich lässt: Etwa dank Fussnotenverwaltung ist Ragtime besser geeignet für die gestalterische Aufbereitung wissenschaftlicher Publikationen.

Im Bereich Office-Publishing sorgen die tabellenkalkulatorischen Fähigkeiten für einen Vorsprung und für Privatanwender dürfte der unübertreffliche Preis den Ausschlag geben. Demgegenüber ist die Bedienung des PageMakers einen Zacken schlüssiger und der Einarbeitungsaufwand daher etwas kleiner. Und weil das Adobe-Produkt in der grafischen Industrie die grössere Verbreitung hat, ist die Zusammenarbeit mit Druckereien bei PageMaker-Satzdateien einfacher.

Ein reifes Layoutprogramm für wenig Mäuse: Ragtime eignet sich für geschäftliche Publikationen, etwa wegen der Tabellenfunktion. Am rechten Bildrand zu sehen ist das Inventar, welches alle verwendeten Formate, Texte und andere Elemente verwaltet.

Automatischer Blockumbruch in Ragtime: Nach dem Kürzen der Überschrift auf eine Zeile muss der Layouter nur die Höhe des Textrahmens anpassen.

Quelle: Publisher, Freitag, 28. Juni 2002

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Thema: Software
Nr: 4267
Ausgabe: 02-4
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