Schnäggeloch

von Matthias Schüssler

Macromedia ist gelungen, was selbst der allmächtigen Microsoft Corporation versagt blieb: das Internet mit einem eigenen, proprietären Format zu erobern, damit auf allen Browsern und jeder Computerplattform präsent zu sein und obendrein einen guten Ruf zu geniessen. Flash gilt spätestens seit den South-Park-Animationsclips als Kult, als frische, coole und sexy Technologie, die jede noch so lahme Website mit multimedialem Pep aufmotzt.

Während Flash ein Hansdampf auf (fast) jeder Homepage ist, entpuppt sich Flash-Erfinderin Macromedia als Hansdampf im Schnäggeloch. Vom kultigen Image möchte sich das Unternehmen aus San Francisco lossagen, und zwar radikal: «Wir wollen ernst genommen werden, von Banken und Versicherungen!», bekannte Wendelin Manser, Country Manager von Macromedia Schweiz, an der Medienkonferenz zur neuen Flash-Version.

Mit Flash MX – die beiden Buchstaben stehen für «Macromedia Experience» – wird das bisherige Kerngeschäft zur Nebensache. Nicht mehr nur Vektoranimationen lassen sich mit Version 6.0 erstellen, sondern interaktive Web-Anwendungen: Reservationssysteme, Finanzdienstleistungen oder irgendein Web-Dienst mit Datenbankanbindung. Das kommt nicht von ungefähr: Anfang 2001 hat Macromedia Allaire übernommen. Das Hauptprodukt dieses Herstellers ist ColdFusion. Als so genannte Middleware ermöglicht es dem Webserver den Zugriff auf eine Datenbank: Während Flash die Web-Anwendung im Browser des Surfers mit einer hübschen Oberfläche versieht, sorgt ColdFusion auf dem Webserver für die Anlieferung der Daten. Klar, als Softwareunternehmen lanciert und bewirbt man gern einen solchen Doppelspänner.

Zumal reichhaltige Web-Anwendungen, wie Macromedia sie zu ermöglichen verspricht, das angesagte Thema sind. Und hier liegt auch die Gefahr für den Hansdampf im Schnäggeloch: Jedes Unternehmen, das in der Branche etwas auf sich hält, will die Technologie für Web-Dienste bieten: Sun, Microsoft, Oracle, um nur einige zu nennen. Da ist Macromedia nicht mehr der Topshot, sondern ein hart bedrängter Mitbewerber. Es steht viel auf dem Spiel, und entsprechend eindringlich priesen Wendelin Manser und seine Mannen die Vorzüge von Flash MX.

Manch Flash-Anwender der ersten Stunde wird sich angesichts dieses kühnen Richtungswechsels verunsichert fragen, ob Flash MX nun Animationstool oder Entwicklerumgebung ist und ob Macromedia ihm die Treue halten wird. Da könnte eine Alternative wie gerufen kommen. SVG, das «Scalable Vector Graphics»-Format, steht bereit am Start.

 

Quelle: Tages-Anzeiger, Montag, 11. März 2002

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Nr: 3986
Ausgabe: 02-311
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