Wir sind alle Österreicher

Von Matthias Schüssler

Was ist ein österreichisches Computervirus? Ein Mail mit folgendem Inhalt: «Hallo, ich bin das österreichische Virus. Bitte senden Sie mich an alle Kontakte im Adressbuch, und löschen Sie anschliessend die Daten Ihrer Festplatte!»

Lachen Sie nicht, es wäre voreilig. Wer einen einigermassen grossen Kreis von Web-Bekanntschaften pflegt, bekommt zu jeder Jahreszeit Austria-Viren, die sich nach dem Schneeballsystem verbreiten: Julia schickt mir ein Mail mit «den Empfehlungen des Dalai Lama zum neuen Jahrtausend» – das dicke Ende folgt auf dem Fuss: «Behalte diese Nachricht nicht! Das Mantra muss deine Hände in 96 Stunden verlassen haben!» Glück ist ein simpler Dreisatz: Je mehr Leute mitbespamt werden, desto grösser das in Aussicht stehende Glück. Marina mailt Wissenswertes zum Thema Küssen. Doch auch ihre «Grundgesetze der Liebe» kommen mit einer Fussangel: «Wenn du die Kette unterbrichst, wirst du sieben Jahre Liebespech haben.» Von Anja erreicht mich das «Wir wollen ins «Guinness-Buch der Rekorde»»-Mail. Es droht einem unverhohlen mit einer unappetitlichen Todesart, sollte man auf «Löschen» statt auf «Weiterleiten» klicken.

Trotzdem – weg damit! Doch auch dem dickfelligsten Kettenmailverächter zögert der Finger auf der Löschtaste, wenn es da heisst: «Dies ist kein Kettenbrief! Dieser Brief ist das Anliegen eines kleinen Mädchens, welches an einer schweren Form von Krebs leidet: Sie hat noch sechs Monate zu leben und möchte in dieser Zeit möglichst vielen Leuten sagen, wie wichtig es ist, das Leben zu geniessen!» Es ist unwahrscheinlich – aber ist es ausgeschlossen, dass es dieses Mädchen irgendwo gibt – und ich sein kleines, krankes Herz breche, indem ich seinen Wunsch mit Füssen trete? Verschicke ich sein Mail, kostet mich dies nur ein paar Sekunden und keinen Rappen Porto.

Das ist noch nicht ganz alles: Die in der «Kummerbox» erwähnten «Hoaxes» (gefälschte Viren-Warnungen, die mitunter zum Löschen von Bestandteilen des Betriebssystems auffordern) zeigen, dass Kettenmails Schaden anrichten können, selbst wenn sie keine einzige Zeile bösartigen Programmcode enthalten. Die Sicherheitslücke ist der Mensch, und sie lässt sich nicht per Update, «Hot-Fix» oder Firewall schliessen. An den Surfern aus der Alpenrepublik allein kann der Erfolg der Hoaxes und Kettenmails nicht liegen. Wir sind alle Österreicher.

Quelle: Tages-Anzeiger, Montag, 5. November 2001

Rubrik und Tags:

Faksimile

Metadaten
Thema: Monitor
Nr: 3624
Ausgabe: 01-1105
Anzahl Subthemen: 0

Obsolete Datenfelder
Bilder: 0
Textlänge: 170
Ort:
Tabb: FALSCH