Fensterprunk auf solider Basis

Das neue Windows XP bricht mit dem mausgrauen Erscheinungsbild und den DOS-Altlasten

Von Matthias Schüssler

«Liebe geht über den Desktop», könnten sich Microsofts Entwickler gesagt haben, als sie für Windows XP die neue Oberfläche entwarfen. Luna, so der Codename des Erscheinungsbildes, gibt dem Bildschirmschreibtisch ein knalliges Aussehen. Die dominierende Farbe bei Startmenü und Fenstern ist nicht mehr Grau, sondern Blau. Der Startknopf schimmert grün, und viele Ikönchen haben ein elegantes Aussehen erhalten – das Betriebssystem arbeitet mit der ganzen Farbenpracht des Regenbogens und nicht mehr nur mit 256 Systemfarben. Dies macht weiche Übergänge möglich und lässt Ecken und Kanten verschwinden. Die Bildschirmobjekte erwecken mittels Farbverläufen den Eindruck sanft gerundeter Formen und sehen ganz so aus, als ob sie «angenehm zu befummeln» wären.

Die Liebe zum Betriebssystem geht tatsächlich über den Desktop. Ob der Benutzer gern am Windows-Computer arbeitet oder den PC mit allmorgendlichem Widerwillen einschaltet, hängt wesentlich vom Aussehen des Betriebssystems ab. Die Computerfreaks haben dafür den Begriff Look and Feel geprägt.

Start mit Ungereimtheiten

Es erstaunt, dass der IT-Riese Microsoft trotz zwanzig Jahren Betriebssystem-Erfahrung mit dem Look and Feel noch immer seine liebe Mühe hat. Die Luna-Oberfläche ist ansprechend, doch nicht innovativ. Den plastischen Look der Fenster, man hat ihn bei Apples MacOS X und seinem Aqua genannten Look and Feel gesehen. Bei dem zentralen Bedienungselement von Windows hat Microsoft eigene Ideen entwickelt – doch man wünscht sich bald, die Redmonder hätten die Dreistigkeit besessen, Apples Dock zu klauen: Das überarbeitete Startmenü von Windows XP ist eine monströse Ungereimtheit.

Die neue Programm-Startrampe ist kein klassisches Menü mehr, sondern eine Art «ausklappbarer Startseite». Microsofts Ziel war es, die Untermenüs zu beseitigen; die Ikönchen sollten auf den ersten Blick sichtbar sein. Auf der rechten Seite des zweispaltigen Menüs findet man die Dateiordner, die Systemsteuerung und weitere administrative Werkzeuge. Links oben sind Browser und Mailprogramm untergebracht; darunter erscheinen weitere Programme – doch welche das sind, bestimmt das Betriebssystem nach Gutdünken: Windows XP zeigt in diesem Menübereich die am häufigsten verwendeten Programme – nützlich für Benutzer, die für ihre tägliche Arbeit nur mit wenigen Anwendungen zu tun haben.

Poweruser finden im Windows-Angebot selten das gesuchte Programm und müssen zu dem grünen Dreieck mit der Beschriftung «andere Programme» Zuflucht nehmen. Windows XP fährt dann an dieser Stelle das klassische Startmenü aus – eine unelegante Lösung, die dem Benützer obendrein einen wahren Klickmarathon abverlangt.

Zum Trost lassen sich unter dem Browser- und E-Mail-Ikönchen andere Programme permanent andocken; zu dieser und anderen Erweiterungen der Benutzeroberfläche mehr im «Tipp der Woche».

Unter der «Motorhaube» hält Windows XP hingegen Neuerungen von unbestrittener Güte bereit. Zum ersten Mal kommen auch Heimanwender in den Genuss eines Betriebssystems ohne Altlasten aus grauer Informatikvorzeit. Windows XP basiert, anders als seine Vorgänger Windows 98 und ME, auf dem bewährt stabilen Kern von Windows 2000.

Stabil, dank neuem Fundament

Das DOS-Fundament stellte bei den bisherigen Heim-Windows-Versionen die Kompatibilität zu älteren Anwendungen (hauptsächlich Spielen) sicher, war aber auch an vielen Abstürzen schuld. Damit ist Schluss – der 25. Oktober als offizieller Starttermin von Windows XP ist zugleich auch der Todestag von DOS, des «Disk Operating System» aus dem Jahr 1981.

Inzwischen sind auch preiswerte Heim-PCs leistungsfähig genug für den anspruchsvollen Systemkern von Windows 2000/NT. Andererseits konnte Microsoft die Kompatibilität zwischen der Profi- und der Privatschiene so weit erhöhen, sodass die allermeisten Spiele, Anwendungsprogramme und Hardwarezubehör mit dem neuen System harmonieren sollten. Falls ein alter Scanner, eine exotische Webcam oder das DOS-Utility aus dem Jahr 1992 mit Windows XP nicht zusammenarbeiten will, ist dies verschmerzbar: «Selbst gegenüber dem zuverlässigen Windows 2000 hat Windows XP nochmals an Robustheit zugelegt», bekräftigt Peter Wermelinger von Microsoft Schweiz. Wer sein Windows 98 als unzuverlässig erlebt, sollte das Update durchführen – sofern der Computer die Hardwareanforderungen erfüllt. Mindestens benötigt werden ein Prozessor mit 300 MHz Takt, 128 MB Arbeitsspeicher und 1,5 GB freier Platz auf der Festplatte. Wenn der PC jetzt schon eher langsam arbeitet und Mühe bekundet, sobald mehrere Programme geöffnet sind, sollte nicht upgedatet werden.

Allerdings ist Windows XP kein Allheilmittel gegen Abstürze. Die deutsche Fachzeitschrift «c’t» bemerkt in der Ausgabe 20 treffend: «Viele Probleme des technisch sicher unterlegenen Vorgängers sind heute auf defekte Speichermodule, zu lange IDE-Kabel und andere Hardwareschwächen zurückzuführen.» Die Tücken wackelig konstruierter Billig-PCs vermag auch Windows XP nicht auszubügeln. Windows XP ist der Nachfolger sowohl für Windows 2000 als auch für Windows 98 resp. die Millennium Edition (ME). Dennoch gibts das Produkt in zwei Varianten, einer Home Edition und der teureren Profivariante. Wer das Betriebssystem privat nutzt, hat kaum einen Grund, zu der Professional-Variante zu greifen. Allenfalls die Fax- oder Backupsoftware, die Verschlüsselungsmöglichkeit auf der Ebene des Dateisystems oder die Unterstützung mehrerer Monitore könnte ein Grund fürs Luxus-Windows darstellen. Die anderen fehlenden Funktionen (Integration ins Firmennetz, Mehrsprachen-Unterstützung etc.) sind für den Familiencomputer nicht relevant.

Feuerwand gegen Web-Bösewichte

Sicherheitsbedachte Surfer könnten die neue Firewall als Anlass für den Umstieg nehmen. Diese Funktion versteckt sich in der Systemsteuerung unter «Netzwerkverbindungen». Hier lässt sich festlegen, welche Internetdienste zulässig sind. Wenn der Benutzer festhält, dass er Mails abrufen und Web-Seiten besuchen möchte, sonst aber keinen Datenaustausch mit dem Internet duldet, ist der PC vor Schnüffelprogrammen wie Back Orifice oder andern so genannten Trojanischen Pferden sicher. Leider ist die Konfiguration nicht so einfach wie etwa die des häufig verwendeten Gratisprodukts ZoneAlarm – wer diese Funktion für seinen PC nützen möchte, muss mit einigen Grundlagen des Internetprotokolls vertraut sein.

Alles in allem ist Windows XP ein gelungenes Update. Wer updatet, muss einige Unannehmlichkeiten akzeptieren. Zum einen muss Windows XP aktiviert werden (siehe «Monitor» vom 8. Oktober). Zum Zweiten versucht einem Microsoft bei verschiedenen Gelegenheiten ein Passportkonto (ein globales Benutzerkonto für verschiedene Microsoft-Dienste wie Hotmail, den Windows Messenger, MSN MoneyCentral etc.) aufs Auge zu drücken. Microsoft betreibt diese Vereinnahmungsversuche mit grosser Hartnäckigkeit – das ist störend, denn wer mit Windows arbeitet, der möchte nicht unbedingt auch noch mit Windows kaufen, essen oder schlafen . . .

Preise: Windows XP Home Edition: Vollversion 399 Franken, Update 189 Franken Windows XP Professional: Update 399 Franken; Preis der Vollversion noch offen

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Es ist laut, es ist grell, es ist Windows XP! Das neue Betriebssystem taucht den Desktop in bunte Farben. Und: Der Explorer zeigt sich bei MP3 auskunftsfreudig.

Kein Start auf der grünen Wiese: Der Look von Windows XP lässt Anleihen von anderen Betriebssystemen erkennen.

Das Startmenü reckt seinen Januskopf: Die neue Lösung ist eine seltsame Mischung aus einer Art Programmportal und der wohl bekannten Ikönchensammlung.

Der 25. Oktober ist der STarttermin von Windows XP und der Todestag von DOS.

Quelle: Tages-Anzeiger, Montag, 22. Oktober 2001

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Thema: Hauptgeschichte
Nr: 3557
Ausgabe: 01-1022
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