Corel Bryce 5.0

Fotos und Filme aus einem nicht existierenden Land

Corel Bryce ist der Baukasten für virtuelle Landschaften, die sich mit dieser 3-D-Software verhältnismässig einfach modellieren und in verblüffender Naturgetreue rendern lassen.Matthias Schüssler Auch wenn in vielen von ausgefuchsten PR-Profis formulierten Pressemeldungen das Gegenteil steht: Es gibt keine kreative Software. Wenn ein unbegabter Geist das Grafikprogramm / die Textverarbeitung / die Video­schnitt­soft­ware bedient, kommt kein illustratives Kunstwerk / kein Bestsellerro­man / kein Oscar-verdächtiger Spielfilm zu Stande. Im besten Fall vermögen ausgeklügelte Software-Assistenten und Dokumentvorlagen in Massen das Unvermögen des Anwenders zu kaschieren, doch einen Künstler machen sie aus ihm nicht.

Immerhin: Es gibt Software, die das Zeug dazu hat, den Schöpfertrieb zu wecken – und sei er auch noch kümmerlich oder tief verschüttet. Bryce ist eines dieser aussergewöhnlichen Programme. Das Faszinierende an der Sache: Bryce hat keine geringere Aufgabe, als beim Erschaffen künstlicher Welten zu helfen. Nicht erst nach sieben Tagen, nein, bereits nach wenigen Klicks erscheint die Landschaft auf dem Bildschirm. Diesem im eigentlichen Wortsinn schöpferischen Prozess haftet Magie an …

Und welcher Anwender, der sich plötzlich in die Rolle eines Gottes versetzt sieht, möchte es nicht möglichst gut machen? Besitzt man die Macht, Meere zu platzieren und Berge wachsen zu lassen, soll die resultierende Welt schön, am liebsten sogar perfekt sein. Selbst wenn sie nur im Innern eines Computers entsteht.

Per Drag und Drop ein Gebirge platzieren

Mit Bryce kreiert der Bildschirmweltenschöpfer Landschaften, die so echt wirken, als ob sie die Kräfte der Natur in hunderttausend Jahren geformt hätten. Von einigen Einstellungen hängt ab, ob wilde, steinige Wüstengebiete entstehen, liebliche Inseln im Stillen Ozean oder zerklüftete Felsenformationen, wie sie in amerikanischen Nationalparks zu finden sind. Auch die Flora kann Bryce vorspiegeln: entweder durch virtuelle Bäume oder durch Texturen, welche den Bewuchs oder ein Blätterdach simulieren.

Nüchtern betrachtet ist Bryce eine typische 3-D-Software, welche die Konstruktion von Modellen und das Rendering (das Berechnen des foto­realis­tischen Bildes, inklusive Ober­flächen­effekten der Körper, Licht und Schattenwurf, Reflexionen etc.) ermöglicht. Damit die Landschaftsmodelle naturgetreu wirken, greift Bryce auf die Fraktalgeo­metrie zurück. Die komplexen Algorithmen helfen beim Abbilden vielfach gebrochener geologischer Strukturen ebenso wie beim Berechnen von Verästelungen, wie sie für die Bryce-Bäume notwendig sind (vergleiche dazu den Kasten «Fraktalgeometrie»).

Wie bereits erwähnt, geht in Bryce der Schöpfungsprozess anders als in der Natur ruckzuck vonstatten. Für die Kreation einer Landschaft sind nicht Äonen zu veranschlagen – eine hübsche Insel inmitten eines Meeres hat man schon nach zwei Drag-und-Drop-Aktionen: Die erste platziert die Meeresoberfläche im Arbeitsraum, die zweite das Landschaftsobjekt.

27 fraktale Geländeformen

Hat man jedoch eine andere als die Bryce-Standardwelt im Sinn, ist mehr Arbeit vonnöten. Im Editor wird die Gestalt des Objekts über viele Optionen gesteuert. Als erstes wählt man aus 27 fraktalen Landschaftstypen diejenige, welche der eigenen Vorstellung am nächsten kommt.

In einem zweiten Schritt bearbeitet man dieses Objekt, indem man manuell, mit einer Art Malwerkzeug, das Gelände gezielt anhebt oder absenkt. Per Schaltfläche kann man seine Landschaftsformation auch der Erosion aussetzen, abschmelzen lassen oder durch andere, natürlichen Prozessen nachempfundene Effekte verändern. Soll das Geländeobjekt aus einer Fläche ragen, kann man ihm eine Kegelform verpassen, d.h. dafür sorgen, dass die Kanten rundum auf «Meereshöhe» abfallen.

Schliesslich ist es auch möglich, sein Objekt in eine Art dreidimensionale Kachel umzuwandeln, die sich in alle Himmelsrichtungen nahtlos an ihresgleichen anschliesst.

Sieht die Landschaft aus, wie sie sollte, wird sie über die Farbeinstellungen oder eine Textur wunschgemäss angepasst. Im «Material Lab» steht hierfür eine grosse Anzahl an Voreinstellungen bereit – vom Blätterdach über ein Vulkangelände inklusive Lava, bis zu Schneefeldern oder Wüstensand hat die Bibliothek mehr zu bieten, als ein Stubenhocker je gesehen hat. Für «Nahaufnahmen», in denen einzelne Bäume erkennbar sein sollen, dürfen Baumobjekte «gepflanzt» werden. Im «Tree Lab» darf man aus 61 Arten wählen und sie über diverse Optionen modifizieren, sodass je nach Einsatzzweck ein stattliches Gewächs oder eine kümmerliche Staude resultiert.

Neben den Baumobjekten gibt es auch Steine, symmetrische Gitterkörper, «Metaballs» und die zur Standard­aus­rüstung von 3-D-Programmen gehörenden Kugeln, Kegel, Pyramiden, Zylinder, Würfel, 2-D- und Bild-Objekte und Lichtquellen. Bei der Bearbeitung dieser Modelle bietet Bryce kaum Möglichkeiten. Immerhin kann es Objekte aus vielen anderen Programmen importieren (3D Studio, AutoCAD, Direct 3D, LightWave, PGM, RayShade, TrueSpace, VRML u.a.), sodass aufwändige, nicht fraktale Elemente in einem «traditionellen» Modeller gebaut und dann in Bryce übernommen werden können.

Anfänger kämpfen mit schwebenden Bäumen

Beim Platzieren von Bäumen und anderen Objekten ergab sich im Publisher-Test die Schwierigkeit, dass die Objekte nicht auf Anhieb auf der Oberfläche zu stehen kamen. Schwebende Bäume haben jedoch den Nachteil, dass sie die Glaubwürdigkeit der Szenerie unterminieren. Solche Fehler passieren ungeübten Anwendern – irgendwann entdeckt man das kleine Pfeilchen, das beim Markieren eines Objekts eingeblendet wird. Klickt man darauf, dann lässt es Bryce gewissermassen senkrecht fallen, sodass es exakt auf Grund und Boden zu liegen kommt.

Ist die Szenerie so weit gediehen, werden die atmosphä­ri­schen Ver­hält­nisse ­bestimmt. Auch bei diesem letzten Schritt kann der Anwender eine Unzahl an Optionen beeinflussen: Zahl der Wolken, Schatten, Lichter, Nebel und Dunst, Sonnen- oder Mondstand. Im «Sky Lab» können auch Kometen oder Sterne «eingeblendet» werden und selbst die aktuelle Mondphase lässt sich wählen. Wem diese vielen Auswahlmöglichkeiten zu viel des Guten sind, der kann, wie in vielen anderen Arbeitsschritten auch, aus der Liste der bewährten Voreinstellungen wählen.

Das Rendern schreitet voran: erst globklotzig, dann fein

Nachdem die Kamera wunschgemäss eingestellt ist, darf das Rendern gestartet werden. Sinnvollerweise rendert Bryce erst einmal eine grobe Voransicht, die in weiteren Durchgängen verfeinert wird (man kennt diese Aufbauweise von «Interlace»-GIFs). Wie lange das Berechnen dauert, hängt von der Komplexität und der Grösse des endgültigen Bildes ab, dauert aber auch auf einer einigermassen schnellen Pentium-Maschine Minuten oder auch Stunden. Wer ungeduldig ist, kann die Arbeit auf mehrere Maschinen verteilen; ein entsprechendes Netzwerk-Utility ist im Paket enthalten.

Kampf mit der Zeitleiste

Bryce kann nicht nur Standbilder, sondern auch Animationen berechnen. Möchte man seine selbst geschaffene Welt im Flug überqueren, dann programmiert man eine entspechende Sequenz und lässt sie rechnen. Doch nicht nur die Kamera lässt sich auf der Zeitleiste animieren (denn nichts anderes ist ein Überflug der Szenerie technisch gesehen), sondern auch viele andere Parameter. Nahe liegend ist es, die «Himmelsparameter» zeitabhängig zu verändern: Dann sieht man im Film die Wolken über den Himmel ziehen oder erlebt – so romantisch kann 3-D-Grafik sein! – einen Sonnenuntergang mit.

Das Arbeiten mit der Zeitleiste entpuppt sich als einigermassen knifflig. Damit sich ein Objekt auch wirklich bewegt, muss als Erstes ein Keyframe gesetzt werden. Dies geschieht über die Zeitleiste, indem erst der Schieber an den gewünschten Zeitindex gesetzt und dann auf die Schaltfläche mit dem Plus-Symbol geklickt wird. Aus dem Fly-Out-Menü ist das richtige Element und der zu animierende Parameter zu wählen. Bei Positionsveränderungen darf nicht vergessen werden, den Pfad zu setzen, dem das Objekt entlangwandern soll. Dies passiert entweder über das Menü (Befehl «Objects» \> «Create Path») oder indem der kleine blaue Anfasser im Schwerpunkt des Objekts an die gewünschte Endstelle gezogen wird. Damit sich am Himmel etwas abspielt, ist weniger Arbeit nötig: Keyframe setzen und den gewünschten Befehl (z.B. «Sky – Cover») wählen, fertig. Selbstverständlich kann man, wenn man möchte, die Geschehnisse noch verfeinern, indem man im «Advanced Motion Lab» an den Einstellungen schräubelt: Hier lassen sich die Parameter gezielt einstellen, da jeder einzelne über einen eigenen Schieberegler verfügt. Im «Advanced Motion Lab» ist es auch möglich, zu definieren, dass eine Veränderung nicht linear abläuft, sondern beispielsweise beschleunigt.

Die Kamera in Bewegung

Soll die Kamera in Bewegung geraten, sollte man dazu in die Aufsicht wechseln, in der die Kamera als eigenes Objekt sichtbar wird und bewegt werden kann. Danach ist die Vorgehensweise wie gehabt: Schlüsselbild setzen und den Pfad der Kamera wunschgemäss wählen. Möchte man während der Kamerafahrt ein anderes Objekt, beispielsweise seine eben kreierte Insel, nicht aus dem Blickfeld verlieren, sollte man unbedingt die Funktion «Track Object» benützen (im «Linking»-Register der Objekteigenschaften). «Trackt» man mit der Kamera seine Insel, dann richtet sie sich automatisch darauf aus, egal, wo man sie positioniert.

Mit «Render Animation» löst man die Berechnung aus. Wie die Erfahrung zeigt, lohnt es sich, erst eine kleine Auflösung oder nur wenige Frames (12 Bilder pro Sekunde anstelle von 30) zu rechnen, da das Endprodukt nur selten auf Anhieb den Vorstellungen entspricht und das Rendern viel Zeit in Anspruch nimmt (die oben abgebildete Sequenz mit total 13 Bildern benötigte bei einer Auflösung von 768 auf 512 Pixel auf einem PII mit 266 MHz 95 Minuten).

Bryce kann Filme im Windows-AVI- oder im QuickTime-Format oder als Bitmap-Sequenzen erstellen.

Fazit

Mit Bryce hat Corel ein leistungsfähiges Programm im Portfolio seiner Grafik­anwendungen. Die Version 4 war noch vom US-amerikanischen Anbieter MetaCreations herausgegeben worden, der es im Zuge einer Neuausrichtung mit Focus 3-D fürs Internet zusammen mit anderen Produkten an Corel verkaufte.

Version 5.0 ist die erste, welche unter Federführung der Kanadier entstanden ist. Und diese haben einen guten Job gemacht. Die eigenwillige Programmoberfläche hat keine Ähnlichkeit mit den anderen Corel-Programmen und ist somit einigermassen gewöhnungsbedürftig. Doch da das zugrunde liegende Konzept schnell einleuchtet und man ausserdem die gefällige Optik schätzt, ist dies keine zu grosse Hürde. Zumal sich eine 3-D-Grafiksoftware ohne ein gutes Mass an Lernbereitschaft nicht erschliessen lässt. Ist diese vorhanden, leistet Bryce gute Dienste – sei es für Landschaftsbilder, die in Illustrationen einfliessen, für künstlerische Projekte, für die Weiterbearbeitung im Videoschnitt oder für die Übernahme der fraktalen Bryce-Elemente in ein anderes 3-D-Grafikprogramm. Aber auch einfach zum Spass lässt sich Bryce nützen.

Corel Bryce 5.0 für Windows oder Mac (MacOS X wird unterstützt) ist zum Preis von 549 Franken erhältlich.

Infos: www.corel.com

Eine mit Bryce geschaffene Wüstenlandschaft (oben).

Die Abbildung rechts zeigt die gleiche Landschaft in Bryce, wobei sie ohne Texturen gerendert wurde.

Mit dem richtigen «Material» versehen, erscheint ein Berg als Vulkan, als grün überwucherter Hügel oder als verschneiter Alpenkamm. Wem die mehr als fünfzig vorinstallierten Texturen nicht genügen, der kann eigene erstellen. Aus dem Experimentieren mit Optionen wie Transparenz, Reflexion, Brechung, Streuung und das Einbringen von Texturen oder Verläufen wird leicht ein Stunden verschlingender Zeitvertreib.

Das «Himmelslabor» enthält drei Kategorien zur Beeinflussung von Sonne, Mond, Sternen, Bewölkung und atmosphärischen Bedingung. Was fehlt, ist die Möglichkeit, es über seiner Welt regnen oder schneien zu lassen.

Im «Baumlabor» lassen sich über fraktale Funktionen überzeugend wirkende Bäume erstellen. Verdienstvollerweise haben die Corel-Entwickler 61 Typen vordefiniert: vom Apfelbaum bis zur Zeder sind mehr Bäume zu finden, als ein Botaniklaie kennt.

Schneller als der «Himmel im Eigenbau» geht die Auswahl aus vordefinierten Wetterlagen.

Diese Bildsequenz zeigt einen Flug rund um die Felsformation. Die virtuelle Kamera bleibt dabei stets auf den Berggipfel gerichtet.

Quelle: Publisher, Dienstag, 11. September 2001

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Thema: Bildbearbeitung
Nr: 3761
Ausgabe: 01-5
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