Schüssler

Rückbesinnung auf Tugenden oder bloss Marketing-Furz?

Leute, die analog fotografieren, Musik ab Vinylschallplatte oder mit dem Kassettenwalkman hören – und vielleicht auch eine Hornbrille tragen und ein Dreigang-Velo fahren – was treibt die an? Wollen die sich von der Masse abheben? Oder haben die kapiert, dass neu nicht automatisch besser heisst und nicht jeder Fortschritt eine echte Verbesserung bringt?

Die Hersteller jedenfalls haben den Retro-Trend erkannt und liefern auch im Hightechbereich genügend Produkte, um jedwede nostalgische Anwandlungen zu befriedigen. Als Rohrkrepierer würde ich das Mobiltelefon bezeichnen, das Nokia vor fünf Jahren lanciert hat. Das 3310 war eine Neuauflage eines Modells aus dem Jahr 2000 – charmant, aber mit seiner lahmen Datenverbindung und dem winzigen Display nicht alltagstauglich.

Nostalgisch angehauchte Technologie hat dennoch eine Berechtigung. Sie konzentriert sich auf wesentliche Stärken und hat den Mut, Schnickschnack wegzulassen – wie etwa die Retrokamera Nikon Z fc, die dazu einlädt, Blende und Belichtungszeit von Hand einzustellen und sich nicht auf die Automatik zu verlassen. Damit das überzeugt, muss ein solches Gerät im Kernbereich 150-prozentig perfekt sein – wie zwei aktuelle, unterschiedliche Beispiele zeigen:

Die Pop Keys Mechanical von Logitech. Folienoder auch Membrantastaturen sind der Normalfall bei Computern und Laptops. Sie sind leise und leichtgängig; für einen Anschlag muss man die Taste nur eine kurze Distanz bewegen. Demgegenüber gibt es Tastaturen mit mechanischen Schaltern, den Switches: Sie klappern lauter und vermitteln ein Tippgefühl, das an eine mechanische Schreibmaschine erinnert. Eine wachsende Fraktion von Fans schwört auf diese Tastaturen: Sie loben deren Langlebigkeit und Verlässlichkeit.

Als bekannter Hersteller für Computerzubehör kann sich Logitech diesem Trend nicht verschliessen: Er hat kürzlich die Pop Keys Mechanical lanciert und dabei die Retrotechnik mit einem modischen Lifestyledesign verbunden: Die rund 90-fränkige Tastatur gibt es in drei quietschbunten Farbkombinationen. Am rechten Rand hat sie fünf Emoji-Tasten, über die man seine Lieblingspiktogramme mit einem Tastenschlag in Social-Media- und Chatnachrichten einfügt. Da sich die Kappen der Tasten austauschen lassen, kann man die Emojis auch durchwechseln.

Verdikt: Die Logi-Tastatur ist ein charmantes, auffälliges Produkt, aber die Herzen der echten Fans wird sie nicht erobern: Die kaufen eine mechanische Tastatur nicht ab Stange, sondern bauen sie aus eigens gewählten Komponenten selbst zusammen.

Der IE 600 von Sennheiser. Per 3-D-Drucker werden diese Ohrstöpsel gefertigt, und zwar aus Zirkonium ZR01. Das ein Material, das so leicht und beständig ist, dass es die Nasa für den Mars Rover verwendet hat. Nett, aber für den Nutzer entscheidend ist, was alles fehlt: Es gibt bei den IE 600 kein Bluetooth und kein Mikrofon, keine aktive Geräuschunterdrückung und keinen Transparenzmodus. Dieser Kopfhörer ist nicht zum Telefonieren und nicht für Videokonferenzen gedacht, sondern fürs Musikhören – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Mit seinem Kabel erinnert er mich an die Kopfhörer, die ich vor zehn Jahren verwendet habe. Dieses Retrogefühl ist jedoch nur eine Nebenwirkung: Der Hersteller hat einen klaren Fokus gesetzt, nämlich, die audiophile Nutzerschaft zufriedenzustellen. Und das ist gelungen: Die IE 600 klingen so gut, wie ein In-Ear-Kopfhörer klingen kann – und er ist eine gute Wahl für Leute, die nicht mit einem Bügelkopfhörer herumlaufen wollen, Ohren besitzen, die anatomisch mit den klassischen Ohrstöpseln kompatibel sind – und gewillt sind, 799 Franken auszugeben.

Verdikt: Die Beschränkung auf wesentliche Funktionen wirkt anachronistisch. Aber wenn man weiss, worauf man Wert legt, ist das ein wohltuender Gegentrend zu den eierlegenden Wollmilchsauen, mit denen die Techkonzerne sonst punkten wollen.

Matthias Schüssler ist Digitalredaktor der SonntagsZeitung.

Quelle: Sonntagszeitung, Sonntag, 6. März 2022

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