Supercomputer soll Covid-19-Protein finden

Kampf gegen das Virus Was passiert, wenn das Coronavirus an einer menschlichen Zelle andockt? Um das zu verstehen, stellen weltweit über 700’000 Menschen ihre PC in den Dienst der Wissenschaft.

Matthias Schüssler

Der schnellste Computer der Welt findet sich im US-Bundesstaat Tennessee. Er steht im Oak Ridge National Laboratory und im Dienst des US-Energieministeriums. Er heisst Summit und berechnet Sternexplosionen, die Eigenschaften neuer Materialien und Mittel gegen Krebs.

Der von IBM entwickelte Supercomputer ist beeindruckend: Er erstreckt sich über die Fläche zweier Tennisplätze und braucht so viel Strom wie 7000 Haushalte. Seine Leistung lässt sich zwar nicht direkt mit einem normalen PC vergleichen, doch zur Einordnung lässt sich immerhin der Mac Pro heranziehen: Apple hat in diesem High-End-Computer die, nach eigenen Angaben «weltweit leistungsfähigste Grafikkarte» eingebaut. Die liefert bis zu 56 Teraflops beziehungsweise 56 Billionen Gleitkommaoperationen pro Sekunde. Das ist zwar unglaublich viel, aber trotzdem weniger als ein Zweitausendstel der 122 Petaflops, mit der Summit seine Aufgaben angeht.

Aber auch Summits Rechenleistung verblasst angesichts der gigantischen Kapazitäten, die das Folding@Home-Projekt inzwischen versammelt. Dieses hat am 25. März die Exaflop-Grenze geknackt. Dieses Rechenmonstrum ist um fast einen Faktor zehn schneller als der schnellste Computer der Welt.

Bei Folding@Home handelt es sich nicht um einen einzelnen Supercomputer, sondern um einen Verbund von Computern, der organisch wachsen kann – und das in den letzten Tagen und Wochen auch getan hat. PC-Nutzer aus aller Welt steuern ein bisschen Rechenleistung bei. Während vor der Corona-Pandemie um die 30’000 Leute mitgemacht haben, sind seit dem globalen Ausbruch 700’000 neue Nutzer dazugekommen. «Die Community hat versehentlich den schnellsten Computer der Welt erschaffen», kommentierte ein Wissenschaftsblog lapidar.

Virenschlund öffnet sich

Diese Rechenleistung wird darauf verwendet, nach Proteinen zu suchen, welche das Coronavirus ausser Gefecht setzen. Ein solcher Stoff müsste an der Zelloberfläche des Virus andocken und die Stacheln unschädlich machen. Diese Stacheln, die wie die Zacken einer Krone (lateinisch Corona) abstehen, haben dem Virus zu seinem Namen verholfen. Sie sind die Waffe, mit dem das Virus in eine menschliche Zelle eindringt und seine Erbinformationen einschleust.

Greg Bowman beschreibt, dass diese Stacheln kreisförmig angeordnet sind und sich wie ein Mund öffnen, wenn das Virus an einer Zelle andockt: «Das erinnert uns an den Mund des Demogorgon-Monsters aus der TV-Serie ‹Stranger Things›. Darum nennen wir die Stacheln auch Covid-19-Demogorgon.»

Greg Bowman ist Biochemiker und einer der Initianten von Folding@Home. Er erläutert, wie er verstehen will, wie der Demogorgon seinen Schlund öffnet. Tausende von Simulationen sollen den zeitlichen Ablauf abbilden. Doch diese Simulationen sind extrem aufwendig: «Würde man versuchen, die Öffnung eines Zackens am Computer zu Hause nachzubilden, müsste man froh sein, wenn man bloss einen Teilerfolg in den nächsten hundert Jahren erzielen könnte.»

Doch was ein Computer nicht schafft, können Hunderttausende über den Globus verteilte PC bewältigen. Es ist einfach, den eigenen PC in den Dienst von Folding@Home zu stellen: Wenn Sie mitmachen möchten, finden Sie die Anleitung im Video «Wie Ihr Computer im Kampf gegen Corona helfen kann» auf der Website dieser Zeitung.

Es ist keine neue Idee, einen teuren Supercomputer durch ein Heer normaler PC zu ersetzen. Im Gegenteil: 1999 hat sie erstmals grössere Popularität erfahren. Damals haben die Astronomen der University of California in Berkeley das Projekt Seti@home gestartet. Es hatte das Ziel, im Weltall nach ausserirdischer Intelligenz zu suchen. Die Forscher konnten grosse Radioteleskope während anderer Projekte quasi huckepack mitbenutzen. Doch sie hatten das Problem, dass die Auswertung der Aufnahmen sehr aufwendig war.

Darum haben sie die Aufgabe an eine Community ausgelagert, die in zwanzig Jahren ungefähr 2,3 Millionen Jahre Rechenzeit gespendet hat – so viel, dass das Projekt seit März 2020 pausiert. Inzwischen wurden so viele Informationen gesammelt, dass die erst analysiert werden müssen. Auch daran können sich Freiwillige beteiligen.

Erfahrungen der Alien-Jäger

Auch wenn bislang keine ausserirdischen Lebensformen gefunden wurden, gilt Seti@home als beispielloser Erfolg: Die Initiative hat die Möglichkeiten des verteilten Rechnens und des Volunteer-Computings aufgezeigt. «Man sieht ihren Einfluss überall: Bei Videogames mit Tausenden Mitspielern (MMOG) oder auch bei Cyberwährungen wie Bitcoin und Etherium», schrieb «The Guardian».

Die Erfahrungen, die mit dem Seti-Projekt gesammelt wurden, stehen längst auch anderen Wissenschaftsbereichen zur Verfügung. 2002 hat die Universität Berkeley Boinc ins Leben gerufen, eine offene Plattform für verteiltes Rechnen, die von Forschern aus aller Welt für vielerlei Aufgaben genutzt wird: Für die Suche nach Heilverfahren beispielsweise für Aids, Krebs, Alzheimer, Malaria und Tuberkulose und zur Untersuchung des Klimawandels. Auch Folding@Home profitiert von den Alien-Jägern.

Wer damals die Idee belächelt hat, mittels Heim-PC das All nach Ausserirdischen zu durchforsten, sieht sich eines Besseren belehrt: Die Erkenntnisse dadurch kommen uns Menschen zugute – und zwar hier und jetzt und auf der Erde.

Ein Protein müsste an der Zelloberfläche des Virus andocken und die Stacheln unschädlich machen: Computersimulation von Coronaviren. Foto: Universal Images Group, Reuters

«Die Community hat versehentlich den schnellsten Computer der Welt erschaffen.»
Aus einem Wissenschaftsblog

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 29. April 2020

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