Audio-Podcasts sind das bessere Fernsehen

Die schönsten Bilder entstehen im Kopf, und die packendste Unterhaltung ist die, bei der man nicht auf die Mattscheibe starren muss. Zehn Empfehlungen für einen guten Start in ein spannendes Podcast-Jahr.

Wer hat Burak erschossen?

Sinnsuche nach einem willkürlichen Mord

Philip Meinhold hat sich in seinem Podcast-Feature des Falls von Burak Bektas angenommen, der im April 2012 in Berlin-Neukölln auf offener Strasse und ohne ersichtlichen Grund erschossen wurde. Meinhold recherchiert im persönlichen Umfeld des Opfers, ohne auf eine Spur zu stossen. Er weitet die Spurensuche auf den Bezirk Neukölln aus, in dem es eine rechtsextreme Szene gibt, die Kritiker einschüchtert, gegen Ausländer und Secondos hetzt und Gewaltpotenzial zeigt. Am eindrücklichsten sind die Gespräche mit den Freunden, die den Anschlag überlebt haben und nun mit Verletzungen und quälenden Fragen weiterleben müssen. (schü.)

Bilals Weg in den Terror

Von einem, der auszog, Salafist zu werden

Der zweite Podcast von Philip Meinhold widmet sich dem Schicksal des Hamburger Schülers Florent, der sich dem Islam zuwendet, zum Salafisten wird und als IS-Kämpfer sein Leben in Syrien (oder vielleicht im Irak) verliert. Florent oder Bilal, wie er sich später nennt, ist kein dumpfer Holzklotz, der sich aus romantischer Verklärung radikalisieren lässt, sondern ein quirliger junger Mann, dessen Irrweg nicht vorbestimmt ist. Wie konnte es passieren, dass auch Lehrer und Pfarrer, Sicherheitsund Extremismusexperten, Freunde und die Mutter nichts daran ändern konnten? (schü.)

Fest & Flauschig

Die Königsklasse des Laberpodcasts

Der Laberpodcast ist eine etwas despektierliche Bezeichnung für ein Podcastformat, bei dem zwei oder mehr Leute thematisch offen und ohne Gesprächsleitung über Gott und die Welt plaudern. Das ist eine Urform des Podcasts, die nicht viele so zur Perfektion getrieben haben wie der Satiriker Jan Böhmermann und der Musiker-Moderator Olli Schulz. Ob politische Aktualitäten, (halb-)private Erlebnisse oder Branchenklatsch – die beiden führen vor, wie unterhaltsam es ist, wenn zwei gut harmonierende Charakterköpfe sich Bälle zuwerfen, gegenseitig anstacheln oder ausbremsen. Die Spotify-Produktion zeigt, weswegen Audiopodcasts so viel besser sind als Fernsehen: Die Spielwiese ist grösser, das formale Korsett weniger eng und das Hörerlebnis intimer. Hier dürfen die Moderatoren auch ihrer schlechten Laune einmal freien Lauf lassen. (schü.)

Revisionist History

Eine ergiebige Geschichtsklitterung

Revisionisten wollen die Geschichte umschreiben, mit dem Ziel, die Wahrnehmung in der Gegenwart zu manipulieren. Das ist in den allermeisten Fällen bedenklich – ausser im Fall des kanadischen Journalisten Malcolm Gladwell, der in seinem Podcast die Dinge zurechtrücken will, die von der Öffentlichkeit falsch verstanden worden sind. Er demontiert Winston Churchill und das Schulsystem in den USA. Er recherchiert, wieso McDonald’s seit den 1990er-Jahren Pommes frites verkauft, die nicht halb so gut schmecken wie früher.

Das hat manchmal klassenkämpferische Anleihen, beispielsweise in der Folge 1 der zweiten Staffel, wo Gladwell das Golfspiel in Bausch und Bogen verdammt. Und in der grossartigen Folge 7 der ersten Staffel namens «Hallelujah» versucht er anhand der schrecklichsten Platte von Elvis Costello herauszufinden, wie ein Genie operiert. (schü.)

Soziopod.de

Keine Angst vor grossen Namen

Karl Popper, Michel Foucault, Niklas Luhmann, Pierre Bourdieu – wer diesen Podcast hören will, muss nicht viel Vorwissen über die grossen Philosophen und Soziologen mitbringen. Was es braucht, ist Aufgeschlossenheit für Ideen aus den Sozialund Geisteswissenschaften und ein Interesse, aktuelle Themen unaufgeregt und aus analytischer Distanz zu betrachten. Die beiden Podcaster Nils Köbel und Patrick Breitenbach besprechen Zeitfragen wie Jugendgewalt, Migration, Hass und Hetze, machen uns Hörer aber auch in philosophischen Fragen zu Bildung, Werten, der offenen Gesellschaft oder Religion sattelfest. (schü.)

Stay Forever

Eine frische Show über Spiele aus der Mottenkiste

Ein Podcast nur über Spiele aus den 1980erund 1990er-Jahren? Das klingt absurd für Leute, die noch nie von «Railroad Tycoon», oder «Myst» gehört und in ihrer Jugend einen Bogen um «Lemmings», «Gabriel Knight» und «Day of the Tentacle» gemacht haben. Für alle anderen ist dieser Podcast ein Ausflug in jene Zeit, als die Entwickler das beste aus schwachbrüstiger Hardware machen mussten und die Industrie noch nicht, wie der Film, vor allem auf bekannte, erfolgreiche Franchise setzte.

«Stay Forever» beweist, dass Podcasts zu exotischen Themen ihr Publikum finden, wenn sie leidenschaftlich und fundiert gemacht sind. Gunnar Lott und Christian Schmidt, zwei gestandene Game-Journalisten, gehen analytisch an ihren Gegenstand heran und kümmern sich auch um gesellschaftliche Aspekte – zum Beispiel in der Folge aus dem März 2017, die fragt: Was ist eigentlich Retro? Und Lott und Schmidt lassen keinen Zweifel daran, dass Games längst in der Populärkultur angekommen sind. (schü.)

Den Blick nach draussen, die Welt über die Ohren in den Kopf: Welchen Podcast mag sie wohl hören? Foto: Philipp Nemenz (Gallerystock)

Das Podcast-Revival

Fast schon gescheitert – und jetzt wieder voll da

Die erste Blüte erlebten Podcasts im Jahr 2005. Damals integrierte Apple eine Abo-Funktion in sein Musikverwaltungsprogramm iTunes und verschaffte Millionen von iPod-Besitzern Zugang zu den neuartigen Audio-Shows. Doch die Medienrevolution zündete nicht. Schuld daran waren die Podcaster selbst: Sie pflegten mediale Gegenkultur und zeigten wenig Interesse, ein Publikum ausserhalb der Nische anzusprechen. In der Anfangszeit dominierten Tech-Podcasts, Ad-hoc-Gesprächsrunden, die auch einmal vier Stunden lang dauern konnten und an Stammtischgespräche erinnerten. Populär waren auch Formate, die man als Audio-Blogs bezeichnen könnte: Persönlich gefärbte Betrachtungen, die durch ihren intimen Charakter, doch nicht durch ihre Breitenwirksamkeit bestachen.

Vor zwei Jahren gab es ein eigentliches Podcast-Revival. Ausgelöst wurde es durch «Serial». Die Produktion eines öffentlich-rechtlichen Radiosenders etablierte eine Erzählform, die auf riesige Resonanz stiess und von vielen Podcastern aufgegriffen wurde. Sie erinnert an das Radiofeature: Eine Dokumentation, die Originaltöne, Interviewpassagen und atmosphärische Elemente zu einer dichten Audio-Collage verbindet.

Die Geschichte und ihr Making-of

Eine wichtige Rolle fällt dabei dem Sprecher zu, der in der Geschichte als Akteur auftritt. Bei «Serial» ist das Sarah Koenig, die im Podcast als Rechercheurin in Erscheinung tritt und nicht nur die Geschichte, sondern auch deren Making-of erzählt. Typisch für diese neue Podcast-Form ist nebst dem prägnanten Einsatz von Musik die Erzählung über mehrere Folgen, die eine vertiefte, intensive Auseinandersetzung mit dem Thema erlaubt.

Das wiederum lädt zum «Binge-Hören» ein – wer von der Geschichte gefesselt ist, kann beim Podcastformat so viele Folgen am Stück hören, wie es der übrige Alltag erlaubt.

Viele Podcaster haben die Wirkmächtigkeit dieser Form des Storytellings erkannt. Malcolm Gladwell in «Revisionist History», Philipp Meinhold mit «Wer hat Burak erschossen?» und «Bilals Weg in den Terror» (siehe Kurzbeschreibung), aber auch «S-Town» von den gleichen Machern wie «Serial», oder «Startup» oder «Criminal». Mehrere Studien von 2017 prognostizieren den Podcasts fürs neue Jahr ein Wachstum. Auch Streamingdienste wie Spotify und Deezer verbreiten Podcasts und bieten Eigenproduktionen an. Und auch als Werbeträger wird der Podcast attraktiver: Eine Studie hat gezeigt, dass sich die allermeisten Hörer nicht an Werbung stören.

Matthias Schüssler

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 3. Januar 2018

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