Apple schaut bei Windows ab

Zwei neue Funktionen von iOS 11 für den iPad und iPhone kommen PC-Nutzern bekannt vor. Fehlt es Apple an Ideen?

Matthias Schüssler

Apple hat das Drag & Drop erfunden – schon wieder. Das erste Mal fand die Erfindung 1979 statt. Damals hat Jef Raskin sich die ursprünglich «click and drag» genannte Möglichkeit ausgedacht, Elemente zu «packen», festzuhalten und über eine grafische Benutzeroberfläche zu bewegen. Jef Raskin war die treibende Kraft hinter dem Macintosh und dessen Vorläufer, dem Lisa-Computer. Der Philosoph, Mathematiker und Informatiker hat wesentliche Teile des grafischen Computerdesktops entwickelt. Die Grundelemente seiner Erfindung kommen heute beim PC und beim Mac noch immer zum Einsatz.

Die zweite Inkarnation erfährt Drag & Drop jetzt für Apples Tablet. Das iPad kam bisher ohne diese Möglichkeit aus, zumindest wenn man von der Möglichkeit absieht, die App-Symbole auf dem Desktop umzuplatzieren. Doch mit iOS 11 wird sie nun eingeführt, zumindest am iPad. iOS 11 ist die nächste Version des Betriebssystems für das iPhone und das iPad, die mutmasslich am 19. September kostenlos erhältlich sein wird. Es nutzt das Drag & Drop, um zum Beispiel Fotos zwischen Apps zu verschieben oder mehrere Apps nebeneinander am Bildschirm zu platzieren.

Die wichtigsten Neuerungen von iOS 11

«Es ist ja ein Treppenwitz der Geschichte, dass Apple das Konzept vor 34 Jahren mit dem Apple Lisa überhaupt erst bekannt gemacht hat, aber auf seinem Tablet erst nach sieben Jahren eine entsprechende Funktion einführt», schrieb Zeit.de bei der ersten Vorstellung von iOS 11 im Juni. Doch es war kein Versäumnis, sondern eine bewusste Designentscheidung: Das erklärte Ziel bei den Touchgeräten war eine einfachere Bedienungsweise.

Um diesen Zweck zu erfüllen, gibt es beim iPhone und beim iPad keine langen Menüs. Und vor allem auch kein sichtbares Dateisystem: also keine Ordner und Unterordner, in die man seine Dokumente verschieben müsste – was man typischerweise tut, indem man sie per Maus dort ablegt, wo man sie gerne haben möchte.

Dieser Verzicht geht direkt auf Steve Jobs zurück. Allthingsd.com hat einen Konferenzauftritt des damaligen Apple-Chefs publik gemacht, in dem er keinen Hehl aus seiner Abneigung gegenüber der Dateiverwaltung machte: «Jede Studie zu Benutzerschnittstellen zeigte uns, dass die Leute gut zurechtkommen, bis sie auf das Dateisystem stossen – an dem Punkt wird die Lernkurve vertikal.»

Jobs wollte kein Dateisystem

Der Apple-Gründer hatte auch eine Idee, wie es einfacher gehen sollte: «Man muss nicht im Dateisystem nach Mails suchen. Nein, die Mail-App managt sie.» Dieses Prinzip war massgebend für Apples Mobilgeräte: Es gibt kein Dateiverwaltungsprogramm wie den Mac-Finder oder den Explorer bei Windows. Dokumente sind über die entsprechenden Apps zugänglich – und leicht zu finden.

Doch nun bringt Apple also nicht nur Drag & Drop, sondern auch ein sichtbares Dateisystem. Die «Dateien»-App ersetzt die iCloud-Drive-App, die bislang für die Verwaltung von Apples Online-Ablage zuständig war. Diese App erlaubt es, Dateien in eine App zu ziehen. Es ist möglich, eine PDF-Datei aus der Dropbox in die iBooks-App zu verfrachten oder umgekehrt Aufnahmen aus der Fotos-App in einem Ordner auf dem iPad oder in der iCloud zu deponieren.

Im Vergleich zum Desktop-Computer hat das Drag & Drop am Tablet mit einer zusätzlichen Herausforderung zu kämpfen. Am Computerbildschirm kann man mehrere Fenster nebeneinander offen haben. So ist es einfach, Ursprungsort und Ziel einer Verschiebeaktion nebeneinander offen zu halten. Beim Tablet laufen die Apps im Vollbild. Das hat zur Folge, dass parallel zur eigentlichen Drag&Drop-Aktion auch zur Ziel-App gewechselt werden muss. Und das führt dazu, dass man oft zweihändig arbeitet.

Fingerakrobatik nötig

Beispiel: Sie möchten einige Bilder aus der Fotos-App in ein E-Mail ziehen. Dazu markieren Sie die Fotos mit dem Zeigefinger der rechten Hand und halten diese quasi «freischwebend» fest. Nun wischen Sie mit der linken Hand von unten nach oben: So erscheinen die offenen Apps, aus denen Sie die E-Mail-App auswählen. Wiederum mit dem linken Zeigefinger tippen Sie auf den Knopf «Neues E-Mail». Und sobald das Textfeld sichtbar ist, legen Sie dort die Fotos ab.

Ähnliche Fingerakrobatik ist auch gefragt, wenn zwei Apps nebeneinander geöffnet werden sollen. Das funktioniert nicht mehr wie in früheren Versionen so, dass die zweite App vom rechten Rand ins Bild gewischt wird. Bei iOS 11 ziehen Sie Ihre App mit der einen Hand an den rechten Rand, während Sie mit der anderen Hand die App starten, die auf der linken Seite erscheinen soll. Sobald diese App geladen ist, können Sie die per Finger gezogene App am rechten Rand platzieren. Übrigens: Unser Video führt das vor: ios11.tagesanzeiger.ch.

Apple bricht mit der Vergangenheit, wo der Leitgedanke maximale Einfachheit war. So beurteilt es auch «The Verge»: «Apple ist bereit, das iPhone und das iPad im Namen der Produktivität ernsthaft komplexer zu machen», schreibt der Autor. Das entspringt Apples Bemühen, aus dem Tablet ein ernsthaftes Arbeitsgerät zu machen.

Dass Apple dafür die Funktionen des Ur-Mac nachbaut, kann zwei Dinge heissen: Entweder ist Drag & Drop eine zwingende Einrichtung, ohne die ein digitales Werkzeug auf Dauer nicht auskommt. Oder es ist ein Eingeständnis, dass Apple weiterhin eine klare Vorstellung davon fehlt, wie sich das iPad von den grossen Computern abgrenzen könnte und wie man mit einem Tablet arbeiten sollte. Microsoft macht es geschickter: Windows 10 funktioniert mit Touchbedienung und mit Maus gleichermassen – und es bleibt dem Nutzer überlassen, wie er arbeiten will.

So simpel wie ein Papierblock ist das iPad schon längst nicht mehr. Bild: Keystone

Quelle: Newsnetz, Mittwoch, 13. September 2017

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