Die Handlung in der Hand
Von Matthias Schüssler
Netflix produziere Serien künftig interaktiv, verkündete «The Daily Mail» letzte Woche: Tritt Piper Chapman, die Hauptfigur von «Orange Is the New Black», einer Gefängnisgang bei oder nicht? Der Zuschauer hat es in der Hand, und zwar dank Fernbedienung wortwörtlich: Verschiedene vorproduzierte Handlungsstränge werden uns künftig den Frust einer Handlung ersparen, die sich unerwünscht entwickelt.
Allerdings hat eine Website namens Polygon.comwidersprochen: Netflix wolle zwar vor allem bei Sendungen für Kinder mit neuen Möglichkeiten experimentieren, aber seine Topserien nicht in ein Wunschkonzert verwandeln. Apple dagegen sei daran interessiert, seine erste eigene Serie «Planet of the Apps» interaktiv zu machen. Das ist allerdings kein fiktionaler Stoff, sondern eine Castingshow für Softwareentwickler und ihre App-Ideen.
Ein Blick zurück in die 90er-Jahre erklärt die Zurückhaltung von Netflix und Hollywood bei der Publikumsbeteiligung: Damals kamen CD-ROM-Laufwerke auf und sorgten für ein neues Genre. Die «interaktiven Filme» waren Videogames mit real gefilmten Videosequenzen.
Dieses Game-Genre ist so schnell verschwunden, wie es gekommen ist: Denn trotz grossem Produktionsaufwand waren die spielerischen Möglichkeiten beschränkt. Meist änderte sich bloss die Reihenfolge, in der die Rätsel gelöst werden mussten. Wenn man dem Publikum echte Entscheidungsmöglichkeiten und nicht bloss eine banale Wahl zwischen einem glücklichen und einem traurigen Ende einräumen will, dann wird ein echter Filmstoff an jeder Weggabelung exponentiell komplexer. In einer Serie hat man nach wenigen Folgen Hunderte oder Tausende Varianten. Das ist produktionstechnisch nicht zu stemmen. Und darum bleibt Fernsehen auch im Netflix-Zeitalter eine Einbahnstrasse.