Wie Augen am Hinterkopf

Matthias Schüssler

360 Fly ist eine Videokamera, die 360-Grad-Videos filmt. Das ist spektakulär. Kann man sie im Alltag einsetzen?

Seit März dieses Jahres kann Youtube 360-Grad-Videos anzeigen, und seit September unterstützt auch Facebook solche Panoramaclips. Sie zu filmen, war bislang alles andere als trivial: Dazu nutzten viele Videografen bislang eine spezielle Halterung für mehrere Kameras. 360heros.com verkauft Halterungen, mit der sich sechs bis sieben Go-Pro-Kameras so ausrichten lassen, dass jeder Blickwinkel mit genügend Überlappung abgedeckt wird und sich die einzelnen Aufnahmen lückenlos zusammenfügen lassen.

Das ist ein anspruchsvolles, aufwendiges und entsprechend fehleranfälliges Verfahren. Einfacher geht es mit der 360-Fly-Kamera des gleichnamigen Unternehmens 360fly.com, das als Spin-off des Roboterlabors der Carnegie Mellon University in Pennsylvania entstand und 2011 als erstes Produkt eine 360-Grad-Linse fürs iPhone produzierte (die Go Pano Micro). Diese Kamera hat die Form einer Mandarine und eine einzelne, nach oben blickende Linse. Diese nimmt in Blickrichtung das ganze Panorama auf.

Der Blick nach hinten

Wenn man sich den ganzen sichtbaren Bereich um die Kamera herum als Kugel vorstellt, deckt die Kamera ungefähr eine Halbkugel (Hemisphäre) ab: Stellt man die Kamera auf den Tisch, dann sieht man die ganze sie umgebende Tischplatte und den Raum darüber. Das ist kein komplettes Panorama, das die ganze Sphäre abbildet, wie es mit den erwähnten Go-Pro-Rigs möglich ist. Aber es entspricht ungefähr doppelt so viel, wie eine typische Kamera selbst mit extremem Weitwinkel (Fischauge) einzufangen vermag. Man kann mit der Kamera quasi nach hinten blicken – als ob man Augen im Hinterkopf hätte. Laut Hersteller deckt das Blickfeld 240 Grad ab.

Hier das Demovideo aus den Strassen Zürichs: Mit der Maus können Sie sich um Ihre Achse drehen und nach oben schauen. Sie finden das Video auch direkt hier. Übrigens: Die auf dem Boden platzierte und während der Aufnahme rot blinkende Kamera hat aus nachvollziehbaren Gründen besorgte Passantenblicke auf sich gezogen.

Prädestiniert für Action

Die Kamera wird mit einem schalenförmigen Untersatz geliefert, auf dem man sie mit einer Drehverriegelung fixiert. Diesen kann man über die (ebenfalls im Zubehör enthaltenen) Klebesockel an Sportgeräten oder Fahrzeugen befestigen. Der Untersatz lässt sich gegen eine Variante austauschen, die zum Go-Pro-Montagesystem passt. Die 360 Fly lässt sich damit zusammen mit der breiten Palette an Halterungen für diese Actionkameras verwenden. Denn was geeignete Motive angeht, decken die 360-Grad- und die Action-Cams einen ähnlichen Bereich ab: spektakuläre Outdoor-Aktivitäten in eindrücklicher Landschaft. Entsprechend sieht man auf den Demovideos unter 360fly.com/videos zu Land, Wasser und in der Luft aufgenommene Panoramaclips: Da wird getaucht, mit Motorrädern gefahren, bei Flugschauen aus dem Cockpit gefilmt und auf den Wellen geritten. Und es gibt sogar eine Aufnahme vom Rand des Weltalls zu sehen: Am 5. September 2015 waren zwei der Kameras mit einem Wetterballon auf eine Höhe von 35’000 Metern aufgestiegen.

Die Videos – siehe auch unser Demovideo mit einem Spaziergang durch Zürich – zeigen eine normale Perspektive, die man am Computer per Maus in fast alle Richtungen drehen kann. Pirouetten um die eigene Achse sind ebenso erlaubt wie der Blick nach oben. Nur der Blick nach unten wird einem verwehrt. Wenn man die Clips auf dem Smartphone betrachtet, dann verändert man die Perspektive durch Bewegen des Geräts: Wenn man eine Pirouette dreht, dann macht auch der Ausschnitt auf dem Display diese Bewegung mit. Es liegt auf der Hand, dass man auch eine Virtual-Reality-Brille nutzen kann – und dass dies das natürlichste und intensivste Seherlebnis bieten würde. Die zur Kamera gehörende App stellt einen Modus bereit, mit dem man die Clips über Selbstbastelbrillen wie Google Cardboard betrachten kann.

Eine ausserkörperliche Erfahrung

Die Kamera enthält 32 GB internen Speicher. Aufgrund der kugelförmigen Bauweise war es offensichtlich nicht möglich, einen Kartenslot unterzubringen. Über eine spezielle Schale mit Kontakten wird die Panoramakamera per USB aufgeladen, und angeschlossen an den Computer, öffnet sich auch der Zugriff auf die gespeicherten Videoclips. Ebenfalls möglich ist der Zugriff via Smartphone-App (iPhone und Android). Verbunden werden Telefon und Kamera via WLAN, wobei dann das Telefon auch als Sucher zum Einsatz kommen kann. Da es fast unvermeidlich ist, als Fotograf ins Bild zu kommen (es sei denn, man setzt sich die Kamera auf den Kopf), hat man beim Drehen des Kopfes plötzlich sich selbst im Blick – eine seltsame, ausserkörperliche Erfahrung. Über die App lädt man Clips vom Gerät herunter, bearbeitet sie rudimentär und publiziert sie online. Und man erhält Zugriff auf das eigene Benutzerkonto bei 360fly.com, wo man auch seine Clips mit dem speziellen Viewer betrachtet und über soziale Netze freigibt.

Fazit: Die Rundumkamera bietet spannende neue Einsichten und lässt einen das Gefühl erleben, wie es wäre, Augen im Hinterkopf zu haben. Die Einsatzmöglichkeiten sind letztlich aber beschränkt: Nur bei wenigen Ereignissen passieren so viele Dinge vor und hinter einem, dass man den Rundumblick wirklich brauchte. Natürlich, diese Perspektive gibt dem Zuschauer die Möglichkeit, sich seinen Blickwinkel freier auszusuchen, als das normalerweise der Fall ist – allerdings bleibt er weiterhin an den Punkt gefesselt, an dem der Videograf die Kamera aufgestellt hat. Für die klassischen privaten Einsatzzwecke – Dokumentation von Ferien, Feiern und Freizeit – ist eine herkömmliche Kamera oder eine Action-Cam die pflegeleichtere Wahl.

Schwierig in der Handhabung

Kommt hinzu, dass der Umgang mit den Panoramabildern anspruchsvoller ist als mit einem normalen Video. Die 360 Fly fängt quadratische Bilder mit einer kreisrunden Projektion ein. Diese lassen sich zwar mit einem normalen Videoschnittprogramm bearbeiten, aber nur mit einem speziellen Viewer betrachten, der die Darstellung entzerrt und die Navigation innerhalb des Panoramas ermöglicht. Das schränkt die Verbreitungs- und Nutzungsmöglichkeiten der Clips drastisch ein. Immerhin ist es nachträglich möglich, eine entzerrte Form zu speichern und dort den besten Bildausschnitt nachträglich zu bestimmen.

Allerdings – und das ist der grösste Nachteil der 360 Fly – schränkt die Bildqualität diese Nutzungsmöglichkeiten stark ein. Mit 1504 Pixeln Kantenlänge im Quadrat ist das Bildformat zwar grösser als Full HD. Doch da sich diese Pixel auf eine viel grössere Fläche verteilen als bei einem normalen Videoclip üblich und ausserdem eine Entzerrung stattfindet, sind die resultierenden Bilder verwaschen und mit starken Farbsäumen ausgestattet, die wohl der Fischaugenoptik geschuldet sind. Die Qualität einer herkömmlichen Video- oder Actionkamera ist um Welten besser.

Preis: 499 Franken bei Digitec.ch. Digitec hat uns das Testgerät zur Verfügung gestellt.

Quelle: Newsnetz, Dienstag, 24. November 2015

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