Die letzten Mysterien der digitalen Welt

Die «Cold Cases» der Kummerbox: Ungelöste und unlösbare Fälle der letzten 15 Jahre, die trotz Erfahrung, gutem Willen und viel Internetrecherche nicht zweifelsfrei geklärt werden konnten. Eine Bilanz von Matthias Schüssler

Als Betreuer der Kummerbox wird mir immer wieder die Frage gestellt, ob es denn auch unbeantwortbare Fragen gebe. Ein Kollege, seines Zeichens Nachrichtenchef hier im Haus, hat nachdrücklich und mehrfach den Wunsch geäussert, dass auch einmal die ungeklärten Probleme zum Zug kommen müssten. Vielleicht, weil es ihn stört, wenn uns «Experten» der Ruch der Allwissenheit anhaftet. Womöglich gefällt ihm auch einfach die Vorstellung, dass selbst in der digitalen Welt Geheimnisse existieren, die nicht so ohne weiteres ge­lüftet werden können.

Es soll hier also für einmal um die «Cold Cases» der Kummerbox gehen. Als Erstes verrate ich ein offenes Geheimnis: Wenn ich als Gatekeeper in eigener Sache Fragen für die Veröffentlichung auswähle, dann entscheide ich mich für die, auf die es eine klare Antwort gibt. Die Kummerbox soll für die Leser schliesslich einen handfesten Nutzen haben. Deshalb bleiben auch die exotischen Anliegen in aller Regel aussen vor.

Aber natürlich sind die schwer oder überhaupt nicht beantwortbaren Fragen gar nicht so selten. Viele Fragesteller, die eine direkte Antwort von mir erhalten haben, mussten in der Präambel ­lesen, dass sich mir das Problem nicht vollständig erschlossen habe und ich darum ein, zwei Schüsse ins Blaue wagte. Ich weise ständig darauf hin, dass Ferndiagnosen eine problematische Angelegenheit sind. Viele Symptome lassen sich schwer beschreiben, sodass eigentlich Hausbesuche vonnöten wären. Bei urplötzlichem Systemversagen habe ich Fragestellern auch schon zurück­geschrieben, dass der Tathergang ungeklärt bleiben müsse: Schliesslich muss auch der Kommissar die Leiche sehen, um beurteilen zu können, ob es Mord oder Suizid war.

Manchmal fehlt das Vokabular

Die erste, grosse Kategorie der ungeklärten Fälle sind diejenigen, aus denen der Kummerbox-Betreuer nicht schlau geworden ist. Das kann an einer etwas gar knappen Problembeschreibung liegen («Hilfe, ich habe einen dicken schwarzen Strich auf dem Bildschirm! Was kann ich tun?»). Manchmal fehlt den Fragestellern das technische Vokabular – und oft genug gibt es zu viele Einflussfaktoren, als dass man den Finger auf Anhieb in die Wunde legen könnte. Der C64 war der letzte Computer, den man wirklich verstehen konnte, sagen damalige Nutzer gern. Bei den ersten Heimcomputern ist nachvollziehbar, was der Prozessor bei jedem Kommando tut. Heutige Systeme sind tausendfach schneller getaktet, haben um Faktoren mehr Transistoren und verwenden Software aus Dutzenden Millionen Zeilen Code. Was natürlich auch viel Raum für die Bugs, die berühmt-berüchtigten Programmfehler, lässt.

Es bleibt nur Händchenhalten

Und nicht zu vergessen: Die Systeme sind heute vernetzt. Wenn Outlook nicht mit dem iPhone sprechen mag oder sich Mailprogramm und Server nicht verstehen, dann ist eine Gruppentherapie­sitzung gefragt. Da versteht man das ­Patentrezept der britischen Sitcom «The IT Crowd»: «Haben Sie es schon mit Aus- und Einschalten versucht?»

Die «Cold Cases» der zweiten Kategorie sind die frommen Wünsche. So liegt es nicht in der Macht der Kummerbox, die Zeit oder den Fortschritt aufzuhalten. Diese Sehnsucht schwingt bei vielen Fragen mit. Wieso kann nicht alles bleiben, wie es bei Windows XP war? Denn genau so sollen Computer funktionieren. Ohne Touch, ohne Kacheln, ohne Ribbon und ohne Cloud. Bei diesen Anliegen ist Händchenhalten wichtiger als ein konkreter Rat.

Die Kummerbox kann auch nicht dafür sorgen, dass der Akku ewig hält und Word einen Serienbrief quasi selbsttätig aufsetzt sowie nach Postrouten sortiert verschickt. Sie ist nicht in der Lage, zu beurteilen, wer von unseren Lesern von der NSA oder der weissrussischen Cyber­mafia ausspioniert wird. Und die Kummerbox kann nichts daran ändern, dass Bill Gates als bis ins Mark böser Unsympath wahrgenommen wird. Der Microsoft-Gründer wird auch sechs Jahre nach seinem Austritt aus dem Unternehmen noch gern persönlich für jeden einzelnen Bug verantwortlich gemacht.

Wieso Gates Bluescreens erfand

Ich betreue die Kummerbox seit fast 15 Jahren. In dieser Zeit hatte ich x Diskussionen mit Leuten, die von mir die Bestätigung einforderten, dass Gates die Bluescreens nur deswegen erfunden habe, um ihnen als User das Leben zur Hölle zu machen. Mein scheuer Einwand, es gebe ja noch andere Systeme, verhallte jeweils ungehört. Wer einen Glaubenskrieg führt, mag sich nicht belehren lassen.

Die dritte Kategorie der «Cold Cases» würde ich die waghalsigen Konstrukte nennen. Da gibt es Leute, die ihre Drucksachen grundsätzlich in Excel gestalten – weil es dort diese praktische tabellarische Gliederung gibt. Derlei Zweckentfremdung mündet oft in unlösbare Probleme. Geschlagen geben muss sich die Kummerbox auch beim gestörten Zusammenspiel eines Roland-PC-300-Keyboards mit dem Mac-Notensatzprogramm Sibelius 2. Und bei folgender Knacknuss:

Eine älterer Herr hat erst vor kurzem händeringend nach einer Möglichkeit gesucht, seinen Epson LQ-1070 24 mit Windows 7 zu betreiben. Es handelt sich bei diesem Gerät um einen Nadel­drucker von schätzungsweise 1992. Der funktioniert bestens und hat eine Eigenschaft, bei der jeder moderne Tintenstrahler vor Neid erblasst: Er kann Endlospapier in fast beliebiger Länge bedrucken. Bei der Anfrage war ein Bild angehängt, das einen drei Meter langen Geburtstagsgruss – inklusive Clip-Art-Torte – als selbst gemachtes Banner zeigt.

Blamabler Tipp

Doch so überzeugend dieses Einsatzgebiet auch ist – mit seinem dicken Centronics-Stecker findet er keinen Anschluss an einen modernen Computer. Und selbst wenn man sich mit einem Adapter behilft, gibt es keine neueren Treiber als die für Windows 98. Ich habe empfohlen, das Banner bei einem Dienstleister im Netz drucken zu lassen. Der Fragesteller hat es zwar nicht gesagt. Aber mit diesem Tipp habe ich mich ziemlich ­blamiert.

Abschliessend: Ja, es gibt die Fälle, die eher von einem Exorzisten, einem Betriebssystempsychologen oder einem Voodoopriester denn von der Tagi-Kummerbox behandelt werden müssten. Vor Jahren hat eine verzweifelte Frau geschildert, wie ihr Computer überall bestens funktioniert – aber einen Absturz nach dem anderen hinlegt, sobald sie ihn über die Schwelle ihrer Wohnung trägt. Ein unsichtbarer Bannstrahl? Wasseradern? Ein computerphober Hausgeist? Oder gibt es doch eine vernünftige Erklärung? Den naheliegenden Ratschlag, am besten umzuziehen, habe ich mir verkniffen.

Aus der Ferne Computerprobleme zu lösen, verlangt oftmals fast schon übersinnliches Gespür. Foto: Ewing Galloway (Alamy)

Quelle: Tages-Anzeiger, Montag, 10. November 2014

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