Auf die Fenster folgen die Kacheln

Diese Woche lanciert Microsoft Windows 8, das radikalste Update seit Windows 95. Es ist so innovativ, dass es viele Nutzer vor den Kopf stossen wird.

Von Matthias Schüssler

Windows ist ein widersprüchliches Produkt. Schon der Name: Er bezieht sich auf den Umstand, dass man mehrere Programme in separaten Fenstern nebeneinander betreiben kann. Bei der Geburt des Betriebssystems 1983 war das eine wichtige Neuerung und später Anlass für einen Rechtsstreit mit Apple. In der Welt von DOS und CP/M bestand die Anzeige nur aus Text, und die Interaktion bezog sich nur auf das eine Programm, das im Vordergrund lief.

Jetzt, fast dreissig Jahre später, neigt sich die Ära der Fenster dem Ende zu. Es gibt sie zwar noch, die klassischen Fensterprogramme. Sie müssen jedoch ins zweite Glied, nämlich in die Desktop-Umgebung, zurücktreten.

Windows 8 ist die neue Version von Microsofts Betriebssystem. Sie erscheint diesen Freitag und bringt ein neues Paradigma für die Interaktion mit Anwendungen – die nun auch kurz und knapp Apps heissen. Die neue Umgebung trug ursprünglich den Namen Metro, doch aus markenrechtlichen Gründen musste Microsoft über die Bücher und hat sich den sperrigen Namen Windows 8 Modern UI ausgedacht. Bei der «modernen Benutzerschnittstelle» läuft ein Programm im Vollbild. Als einziges Zugeständnis an parallele Programmarbeit ist es auf grossen Displays möglich, zwei Apps mit vertikalem Split-Screen nebeneinander zu betreiben.

Microsoft baut Windows radikal um, um für die Zukunft gerüstet zu sein – für mobile Geräte, Tablets und Smartphones. An die Stelle des mit Windows 95 eingeführten Startmenüs tritt der Startbildschirm. Er zeigt statt Icons Programmkacheln. Diese «Live Tiles» stellen, anders als die statischen Symbole, oftmals schon Informationen bereit. Auf der Kalenderkachel sind die nächsten Termine ersichtlich. Die Mailkachel zeigt neue Nachrichten an. Auch Börsenkurse oder News sind direkt auf dem Startbildschirm ersichtlich. Für den kleinen Informationshunger braucht man Apps erst gar nicht zu starten.

Einfach gestrickte Apps

Windows 8 wird mit rund 20 vorinstallierten Apps ausgeliefert. Nebst Mail, Video, Musik, Kontakte, der Kamera-App und der Fotoverwaltung werden auch die Themen News, Aktien, Wetter und Reisen abgedeckt. Die Apps sind vergleichsweise einfach gestrickt, können und werden aber unabhängig vom Betriebssystem aktualisiert und verbessert. Moderne Windows-8-Apps von Drittherstellern werden ausschliesslich über den neuen Store bezogen (klassische Fenster-Programme lassen sich frei installieren). Analog zum App-Store von Apple werden die Apps einer genauen Prüfung unterzogen und von Microsoft zertifiziert. Am Verkaufserlös ist Microsoft mit 25 Prozent beteiligt. Falls der Umsatz 20 000 US-Dollar übersteigt, sinkt der Satz auf 20 Prozent.

Der Schweizer Software-Entwickler Michael Giger hat in den vergangenen Monaten eine Kopfrechnungs-App für Windows 8 entwickelt. Der Prozess, um die App in den Store einzureichen, hat sich für ihn als langwierig erwiesen. Er musste seine App einem Microsoft-Mitarbeiter vorführen, diverse Änderungen vornehmen und US-amerikanische Steuerformulare ausfüllen. Dennoch äussert er sich positiv – ein zentraler Store für eine globale Kundschaft sei eine grosse Chance. Ausserdem ist zu erwarten, dass der Zertifizierungsprozess nach der Bereinigung der Kinderkrankheiten weniger umständlich wird.

Der Charme von «Touch first»

Das neue Betriebssystem ist auf die Touch-Bedienung ausgelegt. Man darf zwar weiterhin Maus und Tastatur nutzen, doch die Leitlinie lautet «Touch first». Das führt zu markanten Veränderungen bei der Steuerung. Ein neues Instrument, mit dem man sich anfreunden muss, ist die Charms-Leiste. Sie öffnet den Weg zu den Programmeinstellungen. Man verwendet sie für Suchabfragen, um Informationen zwischen Apps auszutauschen, und auch gedruckt wird via Charms. Die Leiste ist in allen Programmen verfügbar, jedoch normalerweise unsichtbar. Um sie zu benutzen, muss man wissen, wie sie einzublenden ist – indem man per Finger oder Maus eine Geste ausführt oder die Windows- und die «c»-Taste betätigt. Diese Bedienweise ist nicht selbsterklärend, und das erschwert den Umstieg. Namentlich Unternehmen dürften den Schulungsaufwand scheuen. Immerhin: Neue Computer mit Windows 8 werden eine eigene Charms-Taste besitzen.

Benutzerkonten können bei Windows 8 mit einer Windows-Live-ID verbunden werden. Wenn man sich für diese Onlineanbindung entscheidet, werden Windows-Einstellungen via Internet abgeglichen. Bei der Arbeit mit mehreren Computern werden alle Maschinen uniform eingerichtet und konfiguriert. Zum einen werden das Hintergrundbild, Zugangsdaten, die Favoriten, der Verlauf und die Kacheln auf dem Startbildschirm synchronisiert. Auch die Apps und deren Einstellungen sowie den Ausführungszustand gleicht Windows ab. Man kann seine Arbeit am privaten Computer dort fortsetzen, wo man beim Büro-PC aufgehört hat.

Es gibt ausserdem eine einfache Möglichkeit, den Computer zurückzusetzen. Die aufwendige Neuinstallation sollte bei vielen Problemen überflüssig werden. Und über die «Windows to Go»-Funktion führt man sein Benutzerkonto auf einem USB-Stick in der Tasche mit.

Windows 8 ist für die mobile Welt konzipiert – auch unter der Oberfläche. Es läuft nicht mehr nur auf Intel-Prozessoren, sondern unterstützt auch die ARM-Architektur. Das ist ein Prozessordesign, das von vielen Unternehmen wie Apple, IBM oder Nvidia lizenziert wird und sich, wegen der geringen Energieaufnahme, für Smartphones und Tablets eignet. Die Variante von Windows 8, die für Tablets und besonders leichte Laptops vorgesehen ist, heisst Windows RT. Es kann nur die neuen Vollbild-Apps ausführen, die klassischen Fenster-Anwendungen laufen nicht auf RT – mit Ausnahme des Internet Explorer und Office 2013. Wer im Desktop herkömmliche Programme benutzen will, braucht ein Gerät mit Intel-CPU und dem «normalen» Windows 8.

Schliesslich basiert auch Microsofts Betriebssystem für Telefone, Windows Phone 8, auf dem neuen Systemkern. Die Kacheln gibt es ebenfalls, doch die Windows-8-Apps laufen beim Telefonsystem nicht. Der Aufwand, Apps für beide Plattformen zu entwickeln, soll jedoch relativ bescheiden sein.

Die Widersprüche bei Windows 8 sind durch Microsofts hohe Ziele begründet. Ein System für alle Gerätekategorien sollte es werden, das das «Benutzererlebnis» für klassische PC, Tablets und Mobiltelefone angleicht. Weil der Softwarekonzern angesichts der milliardenfachen Windows-Nutzung alte Zöpfe nicht einfach abschneiden kann, ist ein seltsames Zwitterprodukt entstanden: Wer vor allem mit Fenster-Programmen arbeitet, wird zwischen dem «modern UI» und dem alten Desktop hin und her geworfen. Microsoft erlaubt es noch nicht einmal, dass Windows 8 direkt mit dem Desktop startet. Fortschrittsliebende Nutzer gewöhnen sich daran. Zurückhaltende User haben das Gefühl, da werde ihnen etwas aufgezwängt.

Mutige Brückentechnologie

Windows 8 als Brückentechnologie in eine mobile Zukunft ist auf alle Fälle ein mutiges Unterfangen. Eine innovative Oberfläche, ein solider Store, zukunftsweisende Funktionen wie die Synchronisation von Apps und Einstellungen und eine hybride Oberfläche, die nicht alle glücklich macht. Ob Microsoft Erfolg hat oder scheitert, wird davon abhängen, wie gut Microsofts Hardwarepartner die Geräte auf das neue System abstimmen werden.

Als grosse Premiere bringt Microsoft mit Windows 8 zwei eigene Tablets auf den Markt. Das Modell Surface arbeitet mit einem ARM-Prozessor und mit Windows RT, der Surface Pro kommt mit einem Intel-Chip und mit Windows 8. Beide haben eine Abdeckung, die als Tastatur benutzt werden kann. Fünf Farben wird es geben, wenn die Geräte am 26. Oktober in den Handel kommen. In der Schweiz werden sie vorerst nicht verfügbar sein.

Windows 8 Pro, für 40 Fr. als Download unter microsoftstore.com.

Die neuen Vollbild-Apps sind exklusiv über den App-Store zu beziehen.

Office 2013 ist bereits auf die Windows-8-Optik getrimmt.

Das Benutzererlebnis für PC, Tablets und Smartphones soll sich angleichen: Der Startbildschirm von Windows 8. Screens: TA

Quelle: Tages-Anzeiger, Montag, 22. Oktober 2012

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