Hoffnungsträger mit Defiziten

Am Donnerstag kommt Windows 7 in den Handel. Nach dem Vista-Debakel steht für Microsoft viel auf dem Spiel.

Von Matthias Schüssler

Windows Vista ist für Microsoft ein Debakel. Vor zweieinhalb Jahren erschien dieses Betriebssystem und konnte seither nur wenige Private und noch weniger Unternehmen von Windows XP weglocken. Obwohl XP gute acht Jahre auf dem Buckel hat und reichlich veraltet ist, bleiben ihm 60 bis 70 Prozent der Nutzer in Nibelungentreue verbunden. Vista kommt je nach Marktforscher auf einen Anteil von 19 und 28 Prozent.

Am kommenden Donnerstag erscheint Windows 7 als Nachfolger des glücklosen Vista. Die Erwartungen an ihn sind in der Branche klar umrissen: Er hat der XP-Ära ein schnelles Ende zu bereiten. Er muss Windows-7-PC-Verkäufe ankurbeln, für einen Fortschrittsschub sorgen und die Windows-Welt für die Zukunft rüsten. Soll Microsoft seiner Rolle als dominanter Betriebssystemhersteller gerecht werden, gilt es, Erneuerungskraft zu demonstrieren.

Der Tatbeweis dürfte nicht leicht werden. Er steht und fällt mit den Lehren, die Microsofts Marktstrategen aus der Vista-Pleite gezogen haben. Ihr Schluss besagt, dass der Kurs grundsätzlich stimmt und es die in den Medien kolportierten Schwächen waren, die Vista Sympathien und Marktanteile gekostet haben. Windows 7 erscheint denn auch wie ein Vista, dem man die gröbsten Fehler ausgetrieben hat. Es läuft flotter, verträgt sich besser mit schwachbrüstigen Prozessoren und ist Netbook-tauglich. Die Kompatibilitätsprobleme bewegen sich in verkraftbarem Rahmen. Es gibt kein wildes Feuerwerk an neuen Features, Funktionen und Spielereien wie der gross beworbene und gänzlich nutzlose «3d-Flip» des Vorgängers. Das Betriebssystem konzentriert sich auf sein Kerngeschäft: Eine solide und sichere Grundlage für Anwendungsprogramme zu sein.

Bemerkenswert ist, was fehlt

Folgerichtig definiert sich Windows 7 über Dinge, die fehlen. Die Sidebar, eine der grossen Neuerungen des Vorgängers, ist wieder weg. Man kann zwar die Widgets als Überbleibsel der Sidebar aus der Versenkung holen, aber de facto wurden die Uhr, die kleine Diashow, der Newsticker abgeschafft. Windows 7 enthält auch kein Mailprogramm und keinen Kalender, und auch das Videoschnittprogramm und der Messenger wurden eliminiert – sind aber immerhin über http://download.live.com als Gratis-Downloads zu beziehen. Entfernt hat Microsoft auch viele Altlasten aus grauer Computer-Vergangenheit.

Trotzdem können unter Windows 7 auch alte Programme ausgeführt werden, dafür sorgt der XP-Modus. Er führt alte Programme mit einer versteckten XP-Installation aus. Ein geschickter Kunstgriff, der für den Anwender nicht sichtbar ist. Programme im XP-Modus verhalten sich so wie jedes andere Programm. Der XP-Mode steht aber nur bei den Professional-Versionen und bei Ultimate zur Verfügung.

Die Konzentration aufs Wesentliche tut Windows gut. Sie führt zu vielen Verbesserungen beim zweiten Kerngeschäft, der Dokumentenorganisation. Die neuen Bibliotheken erschliessen grosse Datenbestände. Ordner, die zu einem Projekt gehören, lassen sich in einer Bibliothek und damit in einem einzigen Explorer-Fenster zusammenfassen, auch wenn sie an verschiedenen Stellen der Festplatte deponiert sind. Die Taskleiste ist effizienter geworden. In ihr lassen sich nun Programm-Icons verankern, wie das beim Dock des Mac schon länger möglich ist. Angeheftete Programme sitzen immer in der Taskleiste und werden ohne Umweg über das Startmenü in Betrieb genommen.

Die neuen Sprunglisten erscheinen beim Klick mit der rechten Maustaste auf ein Programm-Icon in der Taskleiste. Sie führen Dokumente auf, die man kürzlich in dieser Anwendung bearbeitet hat. Wichtige Dokumente lassen sich festpinnen. So gelangt man in zwei Mausklicks zu seinem Dokument. Mit einem Rechtsklick aus Programm-Icon und einen Klick auf den Dateinamen in der Sprungliste.

Eine Funktion namens Aero Peek hilft, zwischen den Fenstern eines Programms zu wechseln. Positioniert man die Maus für einige Momente über einem Programmicon in der Taskleiste, erscheinen alle geöffneten Fenster dieses Programms als kleine Vorschau zum Anklicken. Mit Aero Shake erhascht man einen schnellen Blick auf den Desktop. Indem man ein Programm bei der Titelzeile fasst und kurz schüttelt, werden alle Fenster vorübergehend unsichtbar. Eine dritte Funktion namens Aero Snap sorgt dafür, dass Fenster so gezoomt werden, dass sie entweder den ganzen Schirm oder genau die Hälfte des Bildschirms ausfüllen, wenn man sie an den Bildschirmrand zieht.

Zündet der Windows-7-Turbo?

Windows 7 ist aus technischer Sicht überzeugend und verfängt bei den Anwendern, die den Features und Funktionen eines Softwareprodukts gesteigertes Interesse entgegenbringen. Für die Windows-Fans und technikverliebte Anwender ist der Umstieg eine gemachte Sache, ebenso für frustrierte Vista-User.

Die grosse Masse der Windows-Anwender lässt sich von Dingen wie dem Aero Peek nicht in Euphorie versetzen, so ausgeklügelt die Funktion auch sein mag. Jenen Nutzern, die Technik nicht um ihretwillen mögen, hat Windows 7 nicht viel zu bieten. Trotz der Leistungssteigerung startet Windows 7 träge und ist auch im Betrieb oft zu aufdringlich. Immer wieder werden Programme durch Hintergrundaktivitäten wie die Volltext-Indizierung abgebremst. Optisch sieht Windows 7 genauso aus wie Vista und ist manchen Anwendern nach wie vor zu bunt und mit zu viel Schnickschnack ausgestattet. Für diese Anwender bleibt XP das schlichte und unauffällige System.

Wenig Anreize, hohe Kosten

Unter dem Strich bleiben für das Gros der Anwender wenig Anreize für den Umstieg, zumal die Ladenpreise für die Windows-Pakete happig sind. Das Upgrade auf Home Premium schlägt mit 189 Franken zu Buch. Für die Vollversion sind 309 Franken zu berappen. Die OEM-Versionen sind für ungefähr die Hälfte zu haben. Diese Versionen sind für die Auslieferung mit einem neuen Computer bestimmt, es soll sie im Internet aber auch ohne Hardware geben.

Gegen die Aktualisierung eines altgedienten Computers spricht auch ein notorisches Versäumnis von Microsoft. Das Upgrade-Prozedere ist seit jeher kompliziert, und auch Windows 7 bringt die überfällige Vereinfachung nicht. Da Windows in diversen Varianten mit unterschiedlichen Funktionsumfängen und obendrein als 32-bit- und 64-bit-Version auf den Markt kommt, haben selbst erfahrene Anwender Mühe, eine Upgrade-Strategie zu wählen. Der schnelle Weg wäre die direkte Aktualisierung, das sogenannte «In-Place-Upgrade». Er ist aber nicht immer möglich, sodass oft nur die zeitaufwendige Neuinstallation bleibt. Für sie ist mindestens ein Arbeitstag einzuplanen, damit auch Zeit für die unverzichtbare Datensicherung bleibt.

Angesichts des Aufwands wird Windows 7 hauptsächlich über neue Computer Verbreitung finden – und auch hier eher schleppend, weil der Zwang zum schnelleren PC inzwischen kleiner ist als noch vor Jahren. Die wichtigsten Umstiegshelfer dürften die Soft- und Hardwareanbieter werden. Sie werden neue Produkte künftig immer weniger für XP konzipieren.

Am nächsten Montag an dieser Stelle: Tipps für den Umstieg auf Windows 7.

Steven Sinofsky, Chef der Windows-Abteilung, und Microsoft-CEO Steve Ballmer (r.) mit der Windows-7-Installations-DVD. Foto: Keystone

Quelle: Tages-Anzeiger, Montag, 19. Oktober 2009

Rubrik und Tags:

Faksimile
091019 Seite 38.pdf

Die Faksimile-Dateien stehen nur bei Artikeln zur Verfügung, die vor mindestens 15 Jahren erschienen sind.

Metadaten
Thema: Hauptgeschichte
Nr: 9036
Ausgabe:
Anzahl Subthemen: 1

Obsolete Datenfelder
Bilder: 1
Textlänge: 660
Ort:
Tabb: FALSCH