Evolutionäre Entfaltung

Paint Shop Pro entstieg der digitalen Ursuppe als schlankes Sharewareprogramm und ist über sieben Programmversionen zu einem Grafik-Schwergewicht herangewachsen.

Auf meinem (inzwischen betagten) Privat-PC gehört Paint Shop Pro zu den rege benützten Programmen. Sein grosser Vorteil ist der schnelle Start: Auch wenn der Arbeitsspeicher knapp ist, weil ich zum Schreiben meines Artikels in InDesign auch den Webbrowser benütze und in Lexirom Synonyme nachschlage, startet Paint Shop Pro in ein oder zwei Sekunden. Das kleine Progrämmchen ist in einem Bruchteil der Zeit arbeitsbereit, die Photoshop zum Aufstarten braucht, und es bietet dennoch genau die Funktionen, die ich auf die Schnelle benötige: Ich kann Grafiken ruckzuck beschneiden oder ausdrucken, in der Auflösung überprüfen oder anpassen, ein JPEG als TIFF speichern oder umgekehrt, und ich kann ganz hervorragend Bildschirmfotos schiessen. Sprich: Paint Shop Pro ist das ideale Programm für die kleinen Aufgaben zwischendurch, mit denen Photoshop unterfordert wäre.

Neandertaler, topfit in Form

Freilich benütze ich nicht die neueste Version, ganz im Gegenteil: Im Einsatz ist nach wie vor Paint Shop Pro Version 4, vom 19. August 1996 – ein Primat, ein Neandertaler im Vergleich zu all den anderen Programmen, die ich seither x-mal aktualisiert habe. Ein Umstand, der das Handicap von Paint Shop Pro, auch der neuen Version 7, treffend beschreibt: Es erscheint nicht zwingend, die Software zu aktualisieren. Jasc, der Hersteller der Software, entwickelt das Programm kontinuierlich, gewissermassen evolutionär. Mit jeder neuen Version kommen ein paar Funktionen hinzu, Akzente werden nicht gesetzt. Noch nicht einmal die Pro­gramm­ober­fläche hat sich seit Version 4 gross verändert – bei anderen Softwarehäusern ist das Look und Feel ein beliebtes Objekt für Umgestaltungen, gerade wenn die revolutionären Ideen fehlen.

Es ist offensichtlich: Die in Minnesota in einer Ortschaft mit dem schönen Namen Eden Prairie beheimatete Firma Jasc sieht das Produkt nicht als kleiner Bruder zu Photoshop, sondern als «Komplettlösung» – so heisst es auch auf der Verpackung. Eine diskutable Positionierung, denn zum einen ist Paint Shop Pro als Grafik-«Companion» gross geworden, nicht als Vollprogramm. Allround-Grafikprofis, wie sie Paint Shop Pro ins Visier nimmt, kommen in aller Regel nicht um Photoshop herum. Die Preisdifferenz zum Adobe-Boliden ist zwar enorm. Dennoch hätte ich persönlich Bedenken, mich für die Vierfarbenseparation auf Paint Shop Pro zu verlassen. Man bewegt sich da einfach zu weit abseits der bekannten Trampelpfade, auch wenn das Programm seit mehreren Versionen mit CYMK umgehen kann. Für Neueinsteiger im Privatbereich fehlen die Wizards. Auch im Business-Publishing kämen Assistenten gut an, ausserdem legt man in diesen Kreisen sehr viel Wert auf eine – beschworene oder tatsächlich vorhandene – Office-Integration. Bleiben die Webgrafiker: Für sie hat Paint Shop Pro zwar eine Menge zu bieten. Unter anderem den «Animation Shop», ein eigenes Programm zum Kreieren von animierten GIFs. Trotzdem ist Paint Shop Pro kein dezidiertes Programm für Webgrafiken – wer nur fürs Internet gestaltet, wird mit dem Ulead-Paket oder Macromedia Fireworks glücklicher. Es ist sicherlich mit der Vergangenheit als Shareware-Programm erklärlich, dass die Paint-Shop-Pro-Macher weniger Gedanken an die Zielgruppe verschwenden, als ein Unternehmen, das seine Produkte vom Fleck weg über kommerzielle Vertriebskanäle an den User brachte.

Back to the Roots

Angesichts der Vielfalt an Grafikprogrammen sollte Jasc sich genau diese Überlegungen machen. Bei Version 7 ist einfach nicht klar, wer dieses Programm einsetzen soll. Unser Vorschlag: Die Stärke von Paint Shop Pro ist nach wie vor der «Utility-Charakter»: Die Schnelligkeit, die Unterstützung von unzählig vielen Dateiformaten, die das Programm prädestiniert für Konvertierungsaufgaben. Die «Batch-Um­wandlung», also das automatische Konvertieren einer beliebigen Anzahl von Grafikdateien in einem Arbeitsgang, ist eine der stärksten Funktionen von Paint Shop Pro und auch des «Schwesterprogramms» «Image Robot».

Funktionsvielfalt

Wäre die Dominanz von Photoshop nicht derartig übermächtig und erdrückend, dann könnte Paint Shop Pro mit seiner Kampfansage den Rivalen durchaus in Bedrängnis bringen. Mit einem Preis von 229 Franken ist das Programm günstig zu haben. Zumal sein Funktionsumfang, auch wenn das erst beim zweiten Blick sichtbar wird, enorm ist: Wie erwähnt, kann es mit CMYK umgehen. Es verfügt über sogenannte «Justierungsebenen», die ähnlich arbeiten wie die Effektebenen in Photoshop. Text wird als Objekt auf einer Vektorebene platziert, eine Vorgehensweise, die mindestens so einleuchtend ist wie Photoshops Typografieebenen. Darüber hinaus bietet Paint Shop Pro gerade beim Text mehr Einstellungsmöglichkeiten als Adobes Pixelprogramm: z.B. erlaubt es die Definition einer Konturfarbe. Text lässt sich auch einem Pfad entlang setzen. Paint Shop Pro beherrscht mehrfaches Rückgängigmachen. Zwar ist die «Funktionsliste» nicht so elegant wie die Protokollpalette in Photoshop; sie lässt sich auch nicht als eigenes Fenster auf dem Desktop platzieren, erfüllt ihren Zweck aber gleichwohl.

Eine dickes Plus von Paint Shop Pro ist das Referenzhandbuch: Es ist rund 550 Seiten stark und bietet in dreissig Kapiteln Informationen zu der Arbeitsweise des Hauptprogramms und auch zum Animation Shop. Es erleichtert den nicht lesefaulen Neueinstigern das Erlernen des Programms massiv.

Scans oder Fotos aufbessern

Viele der neuen Funktionen in Version 7 enthalten ein «Auto» im Namen: Automatische Filter sollen ohne Zutun des Benützers digitale Fotos verbessern, den Farbumfang optimieren, das Histogramm ins Lot rücken oder rote Augen aus Blitzlichtaufnahmen entfernen. Über die Nützlichkeit gerade der letzten Funktion kann man streiten. Das Resultat wirkt sehr viel Zombiehafter, als wenn man die roten Augen belässt oder mit herkömmlichen Retuschetrinks (und selbstverständlich mehr Fachwissen) beseitigt. Spass macht das Werkzeug vor allem, wenn es missbräuchlich angewendet wird, beispielswiese indem man jemandem ein drittes Auge auf die Stirn pflanzt. Ansonsten liefern die automatischen Filter meist annehmbare bis gute Resultate, lediglich die automatische Farbbalance-Korrektur erzeugte in unseren Tests Farbstiche, statt dass sie ein Bild peppiger machte. Demgegenüber ist der Filter zum Entfernen von JPEG-Artefakten – den klotzigen Bildstörungen die bei zu starker Komprimierung entstehen – praktisch und recht erfolgreich. Wunder kann er natürlich keine vollbringen, aber die Bilder sehen nach der Bearbeitung in der Tat viel besser aus. Bei den Filtern bewährt sich eine neue Schaltfläche, die in der neuen Programmversion in jedem Dialog mit Einstellmöglichkeiten zu Bildparametern als Augen-Symbol in Erscheinung tritt. Klickt man auf sie, dann sieht man eine Vorschau gleich anhand des Bildfensters. Das ist in vielen Fällen sehr viel aussagekräftiger als die Vorschau anhand eines kleinen Ausschnitts.

Mittelmässige Webfunktionen

In der neuen Version sind auch Funktionen für das Webdesign hinzugekommen. Unter Export findet sich die Möglichkeit, Grafiken in optimierter Form fürs Web zu speichern. Ganz so leistungsfähig wie die vergleichbare Funktion bei ImageReady, Fireworks oder Ulead PhotoImpact ist sie nicht. Speziell die Möglichkeit, verschiedene Komprimierungen in einem aufgeteilten Fenster direkt zu vergleichen, fehlt. Paint Shop Pro kann neu auch Image-Maps und Schaltflächen mit Rollover-Effekt erzeugen und Bilder in einzelne Segmente zerlegen («Slicing», bei Jasc «Bild-Unterteilung» genannt). Der entsprechende HTML-Code wird jeweils gleich mitgeneriert.

Wer bisher noch nicht einmal eine alte Version von Paint Shop Pro auf der Harddisk hatte, dem sei das Programm ans Herz gelegt: Als Ergängzung zu Photoshop schlägt es sich gut. Wer nur fürs Web gestaltet, ist bei Ulead besser aufgehoben. Und wer eine alte Version, von Paint Shop Pro besitzt, kann sich die Ausgabe sparen – selbst wenn es Version 4 oder noch eine ältere Fassung ist.

Vertrieb: Sotec Software SA, 1260 Nyon, 0878 800 680, Fax 0878 800 962, www.sotec.ch

Quelle: Publisher, Donnerstag, 1. Februar 2001

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Nr: 3755
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