Andelfingen: Ständeratspräsident Rico Jagmetti sprach am FDP-Apéro über «Aktualitäten aus dem Bundeshaus»

Keine Überforderung des Staates, dafür mehr Verantwortung des einzelnen

Es kommt nicht alle Tage vor, dass ein Zürcher FDP-Mitglied Ständeratspräsident ist und erst noch die Zeit findet, der hiesigen Regionalsektion einen Besuch abzustatten. Um den Besuch möglichst effizient zu nutzen, war das Thema des Andelfinger FDP-Apéros sehr allgemein gefasst: «Aktualitäten aus dem Bundeshaus». Als roter Faden seines Referats wählte der Vorsitzende der kleinen Kammer zwei Urtugenden des Freisinns, Selbstverantwortung und Eigeninitiative.

(msc) Wenn das Thema derart weit gefasst ist, wie das des FDP-Apéros im Löwen in Andelfingen, dann bleibt keine Zeit zur Vertiefung. Rico Jagmetti streifte deshalb die Schwerpunkte der vergangenen und der kommenden zwei Sessionen, und kommentierte die Geschäfte aus ur-liberaler Perspektive: «Es wird heute viel zu viel vom Staat verlangt.» Das Gemeinwesen werde überfordert, der Staat solle für alles und jedes Verantwortung – auch finanzieller Art – übernehmen. Die Folge dieser Haltung sei eine Staatsverschuldung von heute 7 Milliarden Franken und eine undurchschaubare Flut von Gesetzen und Verordnungen. Zwei gegenläufige Denkhaltungen hätten sich bei der Debatte um Regelungen über gentechnisch veränderte Organismen, welche den Ständerat beim Traktandum Umweltschutzgesetz in der letzten Session beschäftigt hatte, deutlich gezeigt.

Beschwörung von ur-liberalen Werten

Die einen würden am liebsten grundsätzlich alles verbieten und lediglich wenige Ausnahmen bewilligen. Eine liberale Haltung sei jedoch, den Rahmen des Möglichen zu stecken, mit einer Bewilligungspflicht beispielsweise: «Innerhalb dieses Rahmens soll der Staat keine Verantwortung übernehmen, sondern diese dem einzelnen überlassen», so Jagmetti. Dies sei unerlässlich, um die Bundesfinanzen wieder in Ordnung zu bringen: «Mit einem Defizit von 7 Milliarden können wir nicht kutschieren». Man sei in der Schweiz sehr grosszügig gewesen, nun müsse man sich überlegen, was wirklich wichtig sei. Stichwort Sozialabbau: Es sei unsinnig, findet Jagmetti, wenn der Gewerkschaftsbund in dieser Situation einen Ausbau der Sozialversicherungen verlange. Keine weiteren Lohnprozente und Steuern, verlangte Jagmetti: «Der Wirtschaftsstandort Schweiz muss attraktiv bleiben!»

Entwicklungshilfe trotz Risiko

Doch der Ständeratspräsident wehrte sich gegen ein Sparen um jeden Preis: Demnächst wird in den Räten ein Verpflichtungskredit für 4 Jahre über 3,9 Milliarden Franken zur Förderung der «technischen Zusammenarbeit» mit Drittweltländern zur Debatte stehen: «Hier werde ich dafür stimmen», sagte Jagmetti, «einfach weil es gerecht ist.» Und obwohl die Entwicklungshilfe Risiken berge: Auch erfolgversprechende Vorhaben können scheitern – in Ruanda seien unspektakulären, aber praxisnahen Projekte durch den Bürgerkrieg zunichte gemacht worden. Sparpotentiale ortet der Zürcher FDP-Vertreter; unter anderem bei der «Bahn 2000», auf die die Räte zu sprechen kommen werden, hier will er auf zwei Neubaustrecken verzichten.

Vertrauensverlust?

Nach dem 40minütigen Referat von Ständerat Jagmetti folgte die Diskussion mit den Anwesenden. Die hakten bei den erwähnten Themen nach, ein Herr meinte zur «Bahn 2000», es sei «katastrophal und dem Vertrauen ins Parlament nicht zuträglich», wenn die ursprünglichen Kosten von 5,6 Milliarden Franken bei genauerer Planung und inklusive Teuerung plötzlich 16 Milliarden betrügen. Dem pflichtete ein weitere FDP-ler bei, und stellte einen Vertrauensverlust ins Parlament fest, der sich darin äussere, dass das Stimmvolk den Empfehlungen der Politiker immer weniger folgte. Jagmetti stellte keinen Reformbedarf für das parlamentarische System der Schweiz fest. Die politische Verantwortung in der Schweiz sei dreigeteilt, wobei jede Instanz ihre eigene Aufgabe habe: Der Bundesrat besässe die Führungsfunktion und liefere Impulse, das Parlament habe eine Gestaltungsaufgabe, und der Bürger den Schlussentscheid treffen: «Man muss sich da nicht wundern, wenn alle drei ihre Verantwortung wahrnehmen». Der Bürger sage nicht nein, weil er den Politikern das Vertrauen abspreche, sondern weil er aus einer anderen Perspektive heraus entscheide.

Das letzte grosse Thema, welches vom Publikum angesprochen wurde, die neue Welthandelsordnung (GATT), war schlicht zu komplex, um vertieft zu werden. Rico Jagmetti betonte dessen Wichtigkeit für die Schweiz und sah die vordringlichste Aufgabe der Behörden darin, die äusserst umfangreiche und komplizierte Materie für die Stimmbürger durchschaubar zu machen

Quelle: Der Landbote, Mittwoch, 7. September 1994

Rubrik und Tags:

Metadaten
Thema: Rico Jagmetti/FDP-Apéro
Nr: 66
Ausgabe: 94-208
Anzahl Subthemen:

Obsolete Datenfelder
Bilder: 0
Textlänge: 246
Ort:
Tabb: FALSCH