Furzen und philosophieren

Zündel, ein unscheinbarer Schweizer, Mitte Dreissig, Lehrer, verheiratet.

Sein Leben? Geordnet. Seine Ehe? Naja. Könnte schlimmer sein. Sein Beruf?…

Zündel ist ein stiller Mitmensch. Ihm liegt das laute Aufbrausen und Aufbegehren nicht (so hat er einmal einen Schafskäse mitsamt den darin hausenden Maden gegessen, nur weil er die häusliche Atmosphäre der Landbeiz nicht durch seine Reklamation stören wollte). Aber Zündel ist ein aufmerksamer Beobachter, der viel sieht und sich noch mehr denkt dazu. Doch er versteht seine Umwelt, seine Mitmenschen immer weniger, kann zum Beispiel seine Frau, die Wörter ihrer Sprache nicht mehr begreifen. Aus Zündels Übersetzung der Begriffe seiner emanzipierten Frau:

  • Eigensucht heisst jetzt Selbstentfaltung. Rücksicht heisst Selbstverlust. Roheit heisst Freimut, Treulosigkeit heisst Spontaneität, Charakterlosigkeit heisst Aufgeschlossenheit für alles Neue. Hohlheit heisst Empfänglichkeit, das Unvermögen, allein zu sein, heisst kommunkative Kompetenz
  • Flatterhaftigkeit heisst Flexibilität. Hemmungslosigkeit heisst Temperament, Kopflosigkeit heisst Impulsivität, Verführbarkeit heisst Unverklemmtheit. Unzuverlässigkeit heisst Selbstbestimmung. Oberflächlichkeit heisst erfrischende, entwaffnende, wohltuende, unvergrübelte, unkomplizierte Natürlichkeit.
  • Die Angst vor dem Verlust der Geliebten heisst kapitalistisch verseuchtes Besitzdenken/spiessig schofle Eifersucht/filziger Sexualneid/infantile Rockipfelneurose. Stinken heisst Duften, Duften heisst Stinken.

Markus Werner, der bei Schaffhausen wohnende, 47jährige Autor, entfacht souverän ein sprachliches Feuerwerk, sprudelt über von begeisternden Wortspielen, schildert so unglaublich treffend eine Fülle von allzumenschlichen Schwächen und Gewohnheiten, dass der Leser nur erkennend vor sich hin grinsen oder laut herauslachen kann, über Zündel, über sich selber. Ein Beispiel von vielen: Auch der intellektuellste Intellektuelle pfeift vorübergehend auf den Hunger der Dritten Welt, wenn ihm die Haare ausfallen. Sobald ein Furunkel an seiner Wange wuchert, ist der ihm einstweilen näher als die Arbeiterklasse… Das Buch ist voller kleiner, intimer Beobachtungen über Angewohnheiten und Mödelchen; mit einer liebevoll-bösartigen Lust kontrastiert Werner geistige Höhenflüge Zündels und seiner Mitmenschen mit liebenswürdig-belanglos-intimen Gewohnheiten: Der furzende, philosophierende Zündel in der Badewanne, der interessiert den aufsteigenden Gasblasen zuschaut. Kein Mensch ist nur ein denkendes Geist-Wesen.

Doch Zündels Identitätskrise geht tief: Es ist nicht nur der moderne Sprachgebrauch (die vielen Kunstwörter («Tierkörperbeseitigungsanlage»), die mehr verschleiern als erklären), der ihn verwirrt. Nicht übermächtig hereinbrechende Schicksalsschläge und Katastrophen werfen ihn aus der Bahn, sondern kleine, dreiste Alltagsattacken. Zündel erkennt die Fehler seiner Mitmenschen, weiss, dass er nicht anders handelt als sie, dass er – wenn er konsequent wäre – aussteigen müsste, sie anklagen, die Frau, die ihr Kind, weil’s im Warenhaus verloren ging, schlägt, anstatt es tröstend in die Arme zu nehmen, an den Pranger stellen. Aber nein, Zündel macht die Faust im Sack, wird Mittäter. Zündel hat vieles durchschaut, zum Aussteiger fehlt ihm das Zeug.

Irgendwann reisst der Faden zwischen Zündel und dem Leser, können wir ihn nicht mehr verstehen. Auch die Psychiater wissen nicht genau, was er eigentlich hat. Dann geht er ab. Vancouver.

Quelle: Toaster, Donnerstag, 11. Juli 1991

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Thema: «Zündels Abgang»
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Tabb: FALSCH