Wie das Leben die Computergames imitiert

Das wirkliche Leben wird zum Computerspiel. Überall kann man Punkte sammeln, Boni erzielen und sich bessere Chancen und Klassierungen erarbeiten.

Von Matthias Schüssler

Ein Computerspiel ist ein virtueller Wettkampf. Man tritt bei klassischen Einzelspielen gegen die Maschine an. Schon in den 70er-Jahren kamen Multiplayer-Games auf, bei denen man übers Netz gegen menschliche Spieler antritt. Eines ist allen Methoden gemein – der erfolgreiche Spieler will belohnt werden: Mit Punkten oder Achievements, quasi virtuelle Orden und Auszeichnungen, mit der Beförderung auf ein neues Spielelevel, und mit einem Eintrag in der High-Score-Liste – der öffentlichen Rangliste.

Die Belohnung ist ein wirkungsvolles Instrument, um Handlungsweisen zu beeinflussen. Das machen sich nicht nur Primarlehrer zu Nutze, die Sternchen für Schönschrift verteilen. Auch der Detailhandel und Verkehrsbetriebe honorieren treue Kunden mit Rabattmarken, Flugmeilen oder Mondo-Punkten. Doch in Kombination mit Smartphones und moderner Technik gibt es ganz neue Einsatzmöglichkeiten für Belohungsmechanismen.

Den Konsum ankurbeln, neue Märkte erschliessen

Der Trend heisst «Gamification». Die Marketing-Abteilungen haben die Möglichkeit erkannt, über die Mechanismen aus der Spielwelt den Konsum anzukurbeln, Treue zu belohnen und sich neue Märkte zu erschliessen. Die Fitnessgadgets beispielsweise sind auch bei den notorisch bewegungsunwilligen Computernerds beliebt. Das «Nike Fuelband» als auch das «Fitbit» sind Accessoires, die man am Handgelenk trägt und die körperliche Aktivitäten registrieren. Sie kommunizieren mit Apps auf dem Smartphone und belohnen Spazieren oder Velofahren mit Punkten und Abzeichen. Eine zweite wichtige Komponente bei der Gamification ist die Community – eine virtuelle Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, die ihr eigenes Fitnessgadget benutzen. In der Community herrscht der Zugehörigkeit und Rivalität auf einmal. Man hat das gleiche Ziel – und versucht sich doch, sich zu übertrumpfen.

Die SBB hat per Anfang 2013 die «Connect»-App lanciert, die fleissiges Zugfahren belohnt und Zugfahrer zusammenführt. Eine Schweizer Gamification-Anwendung aus dem Bereich der angewandten Wissenschaft ist «Kort». Sie wurde an der Hochschule für Technik Rapperswil (HSR) entwickelt, und hat das Ziel, das Datenmaterial auf «OpenStreetMap» zu verbessern. Das ist ein Kartendienst, der wie Wikipedia von den Nutzern gepflegt wird. Hier gibt es Belohnungen in Form von «Koins», wenn ein Nutzer den Typ eines Wegs einträgt, einen Strassennamen nachführt oder ein Tempolimit überprüft. Bei diesem Beispiel trifft Gamification auf den Trend des Crowdsourcings – Auslagerung von Aufgaben an freiwillige Nutzer.

Weit entfernt von raffinierten Spielmechaniken

Bei den eingefleischten Spielern von Videogames wird der Trend nicht geschätzt. Bei «Foursquare» muss man sich nur oft genug an einem Ort anmelden («einchecken»), um sich zum Mayor (Bürgermeister) aufzuschwingen. Eine so durchschaubare Funktionsweise hat nichts mit der raffinierten Spielmechanik eines modernen Computergames gemein. Dennoch verteidigt Matthias Sala den jungen Trend: «Die Gamification ist als Instrument so neu, dass die Entwicklung noch nicht weit gediehen ist. Sie steckt noch auf der trivialsten Ebene. Heute werden vorwiegend Punkte gesammelt. Es sind aber viel mehr Aspekte, die ein gutes Spiel ausmachen. 60 bis 100 Motivationsfaktoren gehören dazu – Ungewissheit, Forschungstrieb, Eroberungsdrang.»

Matthias Sala ist CEO des Schweizer Start-ups Gbanga, und er steckt hinter dem gleichnamigen, mehrfach ausgezeichneten ortsbasierten iPhone-Spiel. Er anerkennt das Missbrauchspotenzial. Mit Gamification-Mitteln lassen sich Leute dazu verleiten zu viele persönliche Informationen preiszugeben oder sich beim Crowdsourcing für echte Arbeit mit Punkten abspeisen zu lassen. «Doch wie bei allem hat das mit der digitalen Bildung zu tun», sagt Spielentwickler Matthias Sala. «Man muss sich bewusst sein, dass mit Gamification immer ein bestimmtes Verhalten herbeigeführt werden soll – und das kann auch tendenziös sein.»

Mehr Wettbewerb, mehr infantile Erwachsene

Man kann der Gamification auch weitere Vorwürfe machen: Sie heizt in einer kompetitiven Welt den Wettstreit noch zusätzlich an – auch im Alltag. Und manche finden es unreif, wenn erwachsene Menschen sich simplen Anreizen verführen lassen. «Es ist in Mitteleuropa kulturell verankert, dass man diese Dinge infantil finden muss.» Das ist nicht in allen Ländern so. Niemand würde in Japan einen Senioren schräg ansehen, weil er sich im Bus mit dem Gameboy vergnügt.

«Doch bei uns sieht man die Gefahr, dass man sich zu Tode amüsiert», sagt Sala mit Anlehnung an Neil Postmans Buch aus dem Jahr 1985, das die Fernsehunterhaltung kritisierte. Auch gebe es die Ansicht, dass man beim Lernen schwitzen und Kopfschmerzen kriegen müsse. Das will er nicht gelten lassen: «Schlimm ist, wenn man sich nichts mehr überlegen muss – aber das ist in interaktiven Spielen nicht der Fall.» Denn bei vielen Computerspielen gibt es echte Denkarbeit zu verrichten.

Das ganze Gespräch mit Matthias Sala ist unter dem Titel «Wir amüsieren uns bis zum Tode» kostenlos als Audio-Podcast zu hören:
http://www.stadtfilter.ch/DigitalPodcast/Digital20130312

Zum Autor

Matthias Schüssler ist seit 1991 Journalist. Seit 2000 schreibt er für den Zürcher «Tagesanzeiger» und hat sich als Experte bei der Beratung in Computerfragen einen Namen gemacht. Die gesammelten Antworten der «Kummerbox» sind in Buchform ein «Longseller».

Nebst seiner Tätigkeit als Journalist und Buchautor ist Matthias Schüssler Blogger und Fotograf, seit 2006 Podcaster und seit 2009 auch Radiomoderator beim Winterthurer Kultursender Radio Stadtfilter.

Quelle: Curaviva, Freitag, 1. März 2013

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