Ein Geschäft wie jedes andere

2011 war das Streaming in der Schweiz eine aufregende neue – und legale — Möglichkeit des Internets: Millionen Titel zur Flatrate, ohne dass man sich wie im Plattenladen entscheiden musste. Seit 2015 ist es Alltag. Und seitdem blättert der Lack.

Das Zeitalter des Musikstreamings begann in mehreren Ecken des Internets. Einer der frühen Vorboten für die kommenden Umwälzungen kam aus dem kalifornischen San Bruno, wo ein blutjunges Startup seinen Sitz hatte. «Bald ist jedes Musikvideo, das je gedreht wurde, auf dem Portal abrufbar», prophezeite der «Blick» im August 2006 und meinte natürlich Youtube. Fleissige Madonna-Fans luden damals alles hoch, was sie an Konzertmitschnitten, Clips und Interviews auftreiben konnten. Und der «Blick» urteilte mitleidlos, für viele sei Youtube das «MTV des neuen Jahrtausends».

Auch in Europa wurde der Wandel vorangetrieben. Doch die Startups gingen bei uns im Vergleich zu den disruptiven Ambitionen der Amerikaner bescheidener ans Werk. Niemand hat hierzulande erklärt, man wolle Plattenläden zu einer exotisch-nostalgischen Randerscheinung machen und die CD als Tonträger aus dem Markt drängen. Spotify wurde 2006 ins Leben gerufen, um der grassierenden Piraterie etwas entgegenzusetzen. Die beiden Gründer, Daniel Ek und Martin Lorentzon, wollten den Nutzern von Musiktauschbörsen wie Napster und Kazaa eine legale Alternative anbieten. Ihr Unternehmen startete in Etappen und mehr als verhalten: 2009 konnten Nutzerinnen und Nutzer in Grossbritannien kostenlos und werbefinanziert Musik abrufen. In der Schweiz war Spotify ab November 2011 zugänglich: 15 Millionen Titeln umfasste das Repertoire, und wer keine Spots hören wollte, musste 12.95 Franken pro Monat berappen.

Apple haut auf die Pauke

Spotify war nicht das einzige Unternehmen, das Ende der Nullerjahre aus der Kombination von Internet und Musik Gewinn schlagen wollte — aber fast das einzige, das bis heute überlebt hat. Ein Anbieter, der das auch geschafft hat, ist Deezer aus Frankreich. Ihn gibt es seit 2007; doch er konnte sich nie zur gleichen Grösse aufschwingen wie der Konkurrent aus Schweden: Deezer hat 16 Millionen aktive Nutzer und sieben Millionen zahlende Abonnenten, während Spotify auf 320 Millionen User kommt, davon 144 Millionen mit einem Bezahl-Abo.

Millionen mit einem Bezahl-Abo.

Oder Simfy: Der Musikstreamingdienst aus Köln hat in der Schweiz viele Tech-Fans auf den Geschmack gebracht. Bei uns konnte man ihn ab August 2010 abonnieren, also ein gutes Jahr früher als Spotify. Mit der weiteren Expansion von Eks und Lorentzons Plattform geriet Simfy in die Defensive und musste im April 2015 den Betrieb einstellen. Zu den gescheiterten Streamingunternehmern gehört auch eines aus der Schweiz. An der ETH Lausanne wurde Museeka.com mit einem eigenen, innovativen Vorschlagssystem entwickelt. Es basierte auf 3000 Eigenschaften eines Stücks, unter anderem Tempo, Harmonie oder Klangqualität, aus der eine Art «Erbgut» extrahiert und für Empfehlungen unabhängig von der Popularität des Titels genutzt werden konnte. Durchgesetzt hat sich diese Idee nicht, der Schweizer Streamingdienst wurde 2014 liquidiert.

Ab dem Jahr 2015 erlebte das Streaming dann rasantes Wachstum. Es war schon ein, zwei Jahre später die dominante Methode des Musikkonsums. Diesem Aufstieg steht der steile Abstieg der CD gegenüber: In den USA hatte die Compact Disc (gemäss Daten der RIAA) noch 1999 für einen Umsatzrekord gesorgt (14,6 Milliarden Euro), der erst 2021 wieder erreicht werden konnte (15 Milliarden Euro). Und auch bemerkenswert: In der Retrospektive prägte der digitale Plattenladen nur eine kurze Episode — obwohl es einem Paukenschlag gleichgekommen war, als Apple-Chef Steve Jobs 2003 den iTunes Store eröffnet hatte. Das war ein Coup, der nicht nur die Branche, sondern auch die Weltöffentlichkeit verblüffte und Apples mobilem Musikplayer iPod viel Extraschub verlieh.

Liebe klingt anders

Seit 2015 hat auch Apple einen Streamingdienst — und spätestens seit diesem Jahr ist das Streaming kein aufregendes neues Internet-Abenteuer mehr, sondern ein Geschäft wie jedes andere auch. Das zeigt sich am deutlichsten am Wandel, den Spotify durchgemacht hat: Aus dem frechen Pionier ist ein Unternehmen geworden, das die Bedürfnisse seiner Nutzer knallhart den eigenen Interessen unterordnet — zum Beispiel, als 2020 den DJ-Apps von Drittherstellern der Zugang abgedreht wurde. Seit 2016 investiert Spotify dickes Geld, um sich das Geschäft mit den Podcasts einzuverleiben. Die Anzeichen deuten daraufhin, dass das nun auch mit dem Hörbuch-Markt wiederholt werden soll. Zu diesem Zweck wird die App so umgebaut, dass sie der Tiktok-Generation gefällt, aber den Musikliebhabern der Zugang erschwert wird. Dem bescheidenen Start zum Trotz denkt Spotify-Chef Daniel Ek heute gross: Er wolle im Audiobereich das werden, was Nike beim Sportgeschäft sei, hat er 2019 gesagt — mit mindestens einer, besser zwei oder drei Milliarden Nutzern. Ob dieses «Audio» nun aus Musik, aus Podcasts, Hörbüchern oder sonst irgendwas besteht, scheint ihm fast egal zu sein. Liebe zur Musik klingt jedenfalls anders. In diesem Licht ist die wiedererwachte Liebe zum Vinyl nicht reine Nostalgie: Sie ist auch ein Bekenntnis, dass die Millionenauswahl eines Streamingkatalogs zwar toll, aber auch nicht alles ist. Genauso toll ist es, ein echtes Album in Händen zu halten, das aus wirtschaftlichen Überlegungen fast gar keinen Sinn ergibt — ausser, dass die Musiker mehr verdient haben als die 0,3 Cent, die ihnen eine Wiedergabe bei Spotify einbringt.

Matthias Schüssler

Aus dem frechen Pionier ist ein Unternehmen geworden, das die Bedürfnisse seiner Nutzer knallhart den eigenen Interessen unterordnet.

Quelle: Loop, Dienstag, 21. März 2023

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