Haben es die Tech-Riesen noch drauf?

Das digitale neue Jahr Was die grossen fünf – Apple, Google, Microsoft, Facebook und Amazon – 2022 geleistet haben und welche Herausforderungen sich im neuen Jahr stellen.

Matthias Schüssler

— Google: Starke Zeichen sind gefragt

Vom Pioniergeist, den Google früher regelrecht verströmt hat, war 2022 nichts zu spüren: Der Konzern hat in diesem Jahr eine smarte Uhr namens Pixel Watch lanciert und abgesehen davon vor allem mit der Einstellung eines Produkts die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gelenkt: Im September hat er das Ende von Stadia verkündet. Das ist ein Dienst, der Videospiele per Streaming zur Verfügung stellt und erst 2019 an den Start gegangen ist. Er wird Ende des Jahres endgültig abgestellt.

Das erweckt den Eindruck von Stagnation – umso mehr, als dieses Jahr ganz im Zeichen der künstlichen Intelligenz stand: Algorithmen, die anhand simpler Beschreibungen Bilder erzeugen. Am Ende des Jahres hat Chat GPT für Furore gesorgt: Der von einem Forschungsunternehmen entwickelte Chat-Roboter ist in der Lage, auch komplexe Fragen zu beantworten. Er ist von seinem Betreiber explizit nicht als Ersatz für eine Internetsuchmaschine entwickelt worden und verweigert entsprechende Anfragen. Dennoch ist unübersehbar, dass es hier um den Bereich der Wissensvermittlung geht – die zu Googles Kerngeschäft gehört.

Der Suchmaschinenkonzern betreibt mit Google Assistant seit 2016 ein System, das Anfragen von Nutzerinnen und Nutzern beantwortet. Im direkten Vergleich zu Chat GPT wirkt das wahnsinnig begriffsstutzig. Das heisst nicht, dass es Google nicht besser könnte: Denn die KI-Bots, die wir dieses Jahr gesehen haben, sind bei den Fakten nicht immer sattelfest und verbreiten mitunter auch eklatante Fehlinformationen. Um das zu vermeiden, äussert sich Google Assistant, genauso wie Siri oder Amazon Alexa, nur zu eng abgesteckten Themengebieten, bei denen eine Qualitätskontrolle möglich ist.

Das ändert aber nichts daran, dass in der öffentlichen Wahrnehmung derzeit nicht die Techgiganten den Ton angeben, sondern die KI-Pioniere. Es steht ausser Frage, dass viele Talente in der Branche Pläne schmieden, wie sie mithilfe dieser neu entdeckten Möglichkeiten den Techkonzernen das Wasser abgraben können. Google muss 2023 zeigen, dass der Konzern derlei Rivalitäten nicht zu fürchten braucht.

— Facebook: Das Metaversum braucht mehr Schub

2022 war für den Facebook-Konzern Meta kein gutes Jahr: Der Börsenkurs ist nach unten gerasselt, 11’000 Mitarbeitende mussten gehen – und Mark Zuckerberg hat gezeigt, wie sehr er sich von Tiktok einschüchtern lässt. Der chinesische Konkurrent hat ihn dazu gebracht, weitreichende Änderungen an Instagram und Facebook vorzunehmen: In den beiden Apps sind neben den Beiträgen von Freundinnen und Freunden auch Inhalte zu sehen, die der Algorithmus aussucht – so, wie die erfolgreiche Video-App ihr Publikum bei der Stange hält.

Das grösste Problem von Meta ist am Ende dieses Jahres ein anderes: das Metaversum. Das ist Mark Zuckerbergs Vision für die Zukunft des Internets und für sein Unternehmen, die er im Oktober 2021 verkündet und die dem Mutterkonzern den Namen Meta eingebracht hat. Dieses Metaversum ist zwar ein längerfristiges Projekt. Doch es ist trotz einiger Marketing-Strohfeuer 2022 kaum vom Fleck gekommen.

Die Aufgabe für 2023 ist klar: Meta muss alles daransetzen, damit dieses Vorhaben für die Öffentlichkeit fassbar und der Fortschritt sichtbar wird. Es braucht riesige technische Verbesserungen – das Ziel muss sein, eine Computerbrille zu konstruieren, die so leicht und unauffällig ist, dass der Nutzer nach ein paar Minuten vergessen hat, dass er sie auf dem Kopf trägt. Vor allem muss Meta eine riesige Überzeugungsarbeit leisten, damit nicht nur Techfreaks, sondern auch die breite Bevölkerung einen Sinn darin sieht, sich diese Brillen überzustülpen und sich in unbekannte virtuelle Gefilde vorzuwagen.

— Microsoft: Die Endanwender ernster nehmen

Microsoft hat sich in diesem Jahr den Krisen zum Trotz gut geschlagen und unter Beweis gestellt, dass die Weichenstellungen in der Vergangenheit richtig waren: Der Konzern setzt inzwischen mit der Cloud am meisten Geld um. Das klassische Geschäft mit Office und Windows, aber auch mit der Suchmaschine Bing, der Social-Media-Plattform Linkedin, der Hardware und dem Gaming ist im Vergleich weniger wichtig geworden.

Das ist für die Nutzerinnen und Nutzer deutlich spürbar: Windows wird zunehmend zu einem Marketingvehikel für die anderen Produkte des Konzerns und immer stärker mit den Cloudund Kommunikationslösungen verzahnt. Windows und Office ohne Anbindung an die Datenwolke und ohne Microsoft-Account zu nutzen, ist möglich, aber zunehmend aufwendig.

Dieser Konflikt zwischen den Eigen- und den Nutzerinteressen dürfte auch im neuen Jahr weiter schwelen. Microsoft ist gefordert, auch die Nutzerinnen und Nutzer ernst zu nehmen, die überhaupt keine Cloud oder keine Cloud von Microsoft verwenden wollen. Es gibt verhaltene Anzeichen in diese Richtung. Eines ist, dass Bilder aus der iCloud von Apple seit kurzem direkt über die Windows-Fotoanzeige-App verwaltet werden dürfen. Viel mutiger und überzeugender wäre es allerdings, wenn nicht bloss Apple zum Zug käme, sondern auch alle Cloud-Anbieter, die die Windows-Anwenderinnen und -Anwender einsetzen wollen.

Gespannt sein dürfen wir auch, wie es mit Activision Blizzard weitergeht: Im Januar 2022 hatte Microsoft die Übernahme des Videospielunternehmens für 68,7 Milliarden Dollar angekündigt. Die US-Wettbewerbsbehörde FTC will das stoppen, und auch die Europäische Kommission hat Bedenken wegen der Marktmacht, die Microsoft bei den Videospielen erlangen würde.

— Apple: Die VR-Katze muss aus dem Sack

Apple hat mit der Apple Watch Ultra in diesem Jahr zumindest für einen kleinen Coup gesorgt: Die High-End-Variante der smarten Uhr hatte vorher kaum jemand auf dem Schirm. Trotzdem ist das Jahr 2022 mit seinen Krisen auch an Apple nicht spurlos vorbeigegangen: Die Tumulte beim chinesischen Fertigungsbetrieb Foxconn wurden in den Medien jeweils mit dem Zusatz vermeldet, dass dort die iPhones gefertigt werden. Apple hat auch mit Lieferengpässen beim iPhone 14 Pro und Pro Max zu kämpfen, die offiziell mit dem strengen Covid-19-Regime in den Fabriken begründet wurden. Eine wichtige Aufgabe für 2023 ist, diese Produktion robuster aufzustellen – und gemäss dem «Wall Street Journal» ist Apple auch bereits dabei, einen Teil nach Indien und Vietnam auszulagern.

Die grosse Frage für Apple-Fans und -Nutzer ist aber, ob 2023 die Zeit reif ist für eine smarte Brille von Apple. Die war von vielen schon für 2022 erwartet worden, doch offensichtlich ausgeblieben. Es gibt aber Anzeichen dafür, dass es im neuen Jahr so weit ist, zumal Apple über eine Briefkastenfirma entsprechende Markenrechte geschützt haben soll. Was genau die Brille leisten können wird, ist unklar. Die Spekulationen besagen, dass es sich um eine «Mixed Reality»-Brille handeln wird. Das bedeutet, dass sie sowohl vollständig virtuelle Welten (VR) als auch eine digital erweiterte reale Ansicht (AR) zeigen können wird. In einer Sache sind sich die Auguren einig: Die Brille wird nicht für den Massenmarkt, sondern für Entwickler lanciert werden und entsprechend teuer sein.

Eines ist klar: Wenn Apple eine neue Produktkategorie lanciert, wäre das ein grosses Ereignis. Apple würde direkt oder indirekt als Konkurrent zum Metaversum von Mark Zuckerberg auftreten, aber dieser Zukunftsvision gleichzeitig mehr Rückhalt und Glaubwürdigkeit verleihen.

— Amazon: Das Schicksalsjahr der vernetzten Lautsprecher

Amazon hat in diesem Jahr 10’000 Leute entlassen und sich von seinem Chef getrennt. Jeff Bezos ist im September als Chef zurückgetreten, doch der Gründer bleibt Vorsitzender des Verwaltungsrats. Und es scheint, dass sich der Internethändler auch von seiner digitalen Assistentin verabschiedet hat. Alexa und die vernetzten Echo-Lautsprecher wurden zwar nicht gänzlich gestrichen, aber «ausgeweidet», wie es ein Journalist von «Business Insider» ausdrückte. Ein Grossteil der Entlassungen würde dieses Team betreffen – und das ganze Unterfangen wird als riesige Enttäuschung und als «kolossaler Misserfolg» gewertet.

Amazon war der Pionier der smarten Lautsprecher. 2014 waren die Hoffnungen gross: Die Interaktion per Sprache sollte auf breiter Front Einzug halten und bald in jedem Haushalt zum Einsatz kommen. 2018 haben sich Google und Amazon eine Marketingschlacht um die Vorherrschaft in diesem Segment geliefert. Doch vier Jahre später ist die Ernüchterung gross, weil die Hersteller den Datenschutzbedenken zu wenig Gewicht eingeräumt haben und der Nutzen von Alexa, aber auch von Google Assistant und Siri für die Kunden letztlich zu bescheiden war.

2023 wird sich zeigen, wie die Zukunft der vernetzten Lautsprecher aussieht. Falls die Ernüchterung anhält, werden sie zwar nicht verschwinden, aber keine grossen Sprünge mehr machen. Denkbar ist aber genauso, dass wir «Alexa 2.0» sehen werden – befeuert durch die Fortschritte, die wir bei der künstlichen Intelligenz Ende dieses Jahres beobachten konnten: Denn Chat GPT hat eindrücklich vorgeführt, dass heute auch Assistenten möglich sind, die nicht bloss auf kurze Kommandos reagieren, sondern auch komplexe Fragen beantworten. Ein Neustart wird aber nur gelingen, wenn den Gefahren von Anfang an Rechnung getragen wird – allen voran dem Umstand, dass solche KIs viele Dinge falsch verstehen und dann Fehlinformationen von sich geben.

Ist die Luft draussen? Dekoration bei der Eröffnung des Google Campus an der Europaallee in Zürich am 27. Juni 2022. Foto: Michael Buholzer (Keystone)

Das Metaversum ist trotz einiger Marketing-Strohfeuer kaum vom Fleck gekommen.

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 28. Dezember 2022

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