Was hat Platz bei Wikipedia – und was nicht?

Die Digitale Allmend hat ähnliche Ziele wie das freie Onlinelexikon. Trotzdem soll der Beitrag über den Schweizer Verein nun gelöscht werden.

Matthias Schüssler

Welche Informationen sollen in Wikipedia enthalten sein, welche nicht? Diese Diskussion erhitzt immer wieder die Gemüter – auch in der Schweiz. 2007 und 2010 hatten die Administratoren die Löschung des Beitrags zum Zürcher Ratsherrentopf gefordert, weil dieser als «lokales Fantasiegericht ohne enzyklopädische Relevanz» angesehen wurde. Nach langen Diskussionen unter Miteinbezug des Unternehmens Betty Bossi und von kulinarischen Koryphäen wurde der Topf beibehalten. Auch für Personen, Unternehmen, Vereine und jegliche andere Gegenstände des digitalen Lexikons gelten die Relevanzkriterien – die von den Administratoren durchgesetzt werden.

Am letzten Wochenende wurde eine Löschdebatte um den Schweizer Verein Digitale Allmend entfacht, der sich seit 2006 für eine offene Wissensgesellschaft einsetzt. Er beteiligt sich an der Revision des Schweizer Urheberrechts und trägt seinen Teil zu den netzpolitischen Debatten in der Schweiz bei.

Martin Steiger ist Anwalt und Mitglied im Verein. Er kann die Diskussion nicht nachvollziehen: «Aus unserer Sicht ist die Digitale Allmend genügend relevant, um einen eigenen Wikipedia-Artikel ­haben zu dürfen. Der Verein ist die ­Hüterin der Creative Commons in der Schweiz. Das ist die freie Lizenzform, die für Wikipedia eine zentrale Grundlage bildet. Da entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn Wikipedia den Beitrag nun löschen will.»

Patrick Kenel ist Präsident und Pressesprecher von Wikimedia, dem Schweizer Förderverein von Wikipedia. Er anerkennt die gemeinsamen Interessen und wirft ein, die beiden Vereine hätten sogar das gleiche Gründungsjahr. Kenel betont, die Löschdiskussion sei nicht abgeschlossen. Typischerweise dauert dieses Verfahren eine Woche, manchmal länger, und am Ende wird entschieden, ob ein Artikel beibehalten oder gelöscht wird. Im Fall der Digitalen Allmend kann sich Kenel gut vorstellen, dass der Artikel die Löschdiskussion übersteht.

Heftige Löschdebatten

Löschdebatten werden im deutschsprachigen Raum heftiger geführt als anderswo. Patrick Kenel sagt, sie seien gerade bei neuen Artikeln häufig. «Es gibt über eine Million Artikel in Deutsch, und es kommen täglich neue Beiträge dazu. Da braucht es sehr viel Arbeit und Aufwand, um sicherzustellen, dass der neutrale Standpunkt eingehalten ist und die Beiträge aktuell gehalten sind.»

Die Löschung der irrelevanten Artikel soll Raum für die Qualitätssicherung bei den relevanten Themen schaffen. Viele Beiträge aus thematischen Nischen seien in einem Spezial-Wiki besser aufgehoben, sagt Kenel. Das sei dank der freien Lizenz kein Problem. So könnten beispielsweise Beiträge über Fernseh­serien oder -stars in Fan-Wikis ausgelagert werden. Diese achten weniger auf Sachlichkeit und Objektivität als Wikipedia. Ihr Anspruch sei es, die Tradition der Allgemein-Enzyklopädie im ­digitalen Zeitalter weiterzuführen, sagt Kenel.

Das Argument der Qualitätssicherung zweifelt Martin Steiger gleich doppelt an. Erstens, weil er das Relevanzverfahren an sich infrage stellt: «Irgendein Nutzer, von dem nicht bekannt ist, wer er ist und was für einen Background er hat, ist der Meinung, die Digitale Allmend sei nicht wichtig für die deutschsprachige Wikipedia. Dann beginnt ein undurchschaubares Prozedere. Man sagt, es sei eine Community, die das entscheide. Aber in Wirklichkeit sind das ein paar wenige Leute – nämlich die, die Zeit ­haben, sich damit abzugeben.»

Zweitens habe sich Wikipedia auch vom Anspruch der Qualitätssicherung schon längst verabschiedet. «Es gibt zu wenige Leute, um die Qualität in der deutschsprachigen Wikipedia sicherzustellen», sagt Steiger. «Es gibt auch Projekte, um neue Leute zu rekrutieren und zu mobilisieren. Die Benutzeroberfläche und der Editor sind etwas besser geworden. Aber wenn Leute, die mitmachen möchten, nicht an die Hand genommen und motiviert werden, dann bringt das alles nichts.»

Auch Patrick Kenel sagt, dass es hilfreich wäre, wenn sich mehr Administratoren für das Lexikon einsetzen würden – wobei die wichtigste Fähigkeit eine diplomatische Ader sei. Auch sei es möglich, neue Richtlinien und Verfahren zu entwickeln. Dazu dient bei Wikipedia das Instrument der Meinungsbilder.

Verhärtete Fronten

Die neu aufgeflammte Auseinandersetzung um das Löschen zeigt verhärtete Fronten: Kenel räumt ein, es sei nicht ideal, wenn jemand eine Löschdiskussion verpasse und dann einen Artikel nicht mehr auffinden könne. «Aber so ist das Vorgehen. Und das ist seit über zehn Jahren so. Ich wüsste nicht, wie man das verbessern könnte.» Steiger ortet eine Blockwart-Mentalität bei den Administratoren, die alte Hasen vertreibe, Neulinge abschrecke und nicht in den digitalen Raum passe: «Das knabbert am Fundament von Wikipedia, und zwar schon seit Jahren. Eigentlich müsste das Ziel sein, dass Leute, die über ein Thema Bescheid wissen, dort mitmachen. Die Erfahrung ist, dass Leute, die bei Wikipedia mitmachen wollen, eine dicke Haut brauchen.»

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 10. Juni 2015

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