MP3 ist zum Abschuss frei

Fast ein Dutzend neuer Musikformate wollen MP3 den Rang ablaufen – die besten Karten hat Microsoft.

Von Matthias Schüssler

MP3 ist die Erfüllung eines grossen Traums. Wird Musik in einen komprimierten Datenstrom überführt, braucht sie fortan keinen Tonträger mehr. Sie saust als Bits und Bytes durchs Internet, wird innert Sekunden von der Festplatte eines Computers auf ein mobiles Abspielgerät übertragen oder findet Eingang in eine grosse digitale Plattensammlung, über die der Besitzer per Mausklick gebietet.

MP3 ist ein grosser Alptraum: Tonträger verkaufen, das ist es, was die Plattenindustrie will. MP3 ist ein Geschäft und eine Schlüsseltechnologie. So kann es nicht erstaunen, dass MP3 grosse Konkurrenz erwächst: Windows Media, Atrac3, Ogg Vorbis, Avanced Audio Coding, QDesign, Monkey Audio, MusePack, VQF und weitere Kandidaten wollen alle das bessere MP3 sein. Die Beweggründe der Herausforderer sind unterschiedlich.

Verschiedene Konkurrenten setzen den Hebel beim Klang an: Sie wollen eine bessere Tonqualität, kleinere Dateien oder gleich beides ermöglichen. In der Tat überzeugt MP3 nicht bei niedrigen Bitraten: Wer kleine Dateien will und darum seine Musik stark komprimiert, muss Qualitätseinbussen in Kauf nehmen, die selbst ein ungeschultes Ohr hört. Mit AAC (Advanced Audio Coding) liefern die MP3-Erfinder des Fraunhofer-Instituts in Kooperation mit Sony, den Dolby Labs und AT&T ein Format, das besser klingt und Platz auf der Festplatte spart.

Eine offene Flanke zeigt MP3 auch beim Thema Patentrecht. Das Fraunhofer-Institut aus dem deutschen Erlangen verlangt Lizenzgebühren für seine Entwicklung, und die sind beträchtlich: 75 Cent sind es für jeden Walkman und jedes Programm mit MP3-Wiedergabefähigkeiten, der Encoder (Hard- oder Softwarekomponente zum Erzeugen von MP3) kostet 2.50 bis 5 US-Dollar pro Stück. Das Lizenzierungsmodell ist eine Erschwernis für Sharewareentwickler. Sie sind darauf angewiesen, ihre Produkte für eine Hand voll Dollar anbieten zu können. Viele der teilweise sehr beliebten MP3-Gratisprogramme sind illegal. Die Open-Source-Gemeinschaft setzt mit Ogg Vorbis auf ein Audioformat, das frei von Rechten ist und den Entwicklern kostenlos und im Quellcode zur Verfügung steht.

Der Plattenindustrie ihrerseits ist der fehlende Kopierschutz ein Dorn im Auge. Die Manager der Musiklabels tun sich weiterhin schwer mit den multimedialen Möglichkeiten von Internet und Computer und akzeptieren nur ein Format mit stark eingeschränkten Verwendungsmöglichkeiten. Beim Anfang August ins Leben gerufene Musikportal Popfile.de stehen die Titel in einem eigenen Format zum Download bereit, das zwar auf MP3 beruht, aber eine separate Wiedergabesoftware voraussetzt. Wer die heruntergeladene Musik auf CD brennen oder in einem Walkman abspielen will, muss sie in Microsofts WMA-Format umwandeln. Andere Download-sites setzen auf Liquid-Audio, eine Erweiterung von AAC.

Halbe Milliarde für ganze Kontrolle

Dass auch Microsoft auf der MP3-Hochzeit tanzen will, versteht sich von selbst. In den letzten vier Jahren hat das Softwareunternehmen rund 500 Millionen Dollar in die Entwicklung der Multimedia-Plattform investiert. Windows Media in der brandneuen Version 9 will sämtliche audiovisuellen Bedürfnisse abdecken. Microsofts Lösung kann sowohl bewegte Bilder als auch Ton per Internet übertragen (so genanntes Livestreaming) oder von einem lokalen Medium wiedergeben. Microsoft wills allen Recht machen, verspricht den Usern bessere Qualität bei kleineren Dateien und ködert die Musikindustrie mit dem Digital Rights Management (DRM). Die Rechteverwaltung steuert die Nutzung der Dateien. Der Rechteinhaber kann festlegen, wie häufig ein Musikstück abgespielt werden darf und ob es auf CD gebrannt werden kann. Allerdings hat im Oktober 2001 ein Cracker den Schutz durch DRM 2.0 unterlaufen.

«Geschlossene Nahrungskette»

Nicht alle zeigen sich erfreut über Microsofts «Rundum glücklich»-Lösung. Nach Meinung von Apple agiere Microsoft gegen einen einheitlichen Standard für digitale Medien: «Windows Media soll encodieren, Windows Media soll decodieren – sie dulden niemanden in ihrer Nahrungskette», kommentiert Apples Quicktime-Manager Frank Casanova.

Dieser Kritik zum Trotz stehen Microsofts Chancen nicht schlecht. Windows Media ist in jedem Windows-Betriebssystem eingebaut. Von dieser Verbreitung kann die Konkurrenz nur träumen. Mit Ogg codierte Musik spielen erst wenige Player, namentlich Sonique, WinAmp oder FeeAmp. Wer seine Musik unterwegs hören will, dem bleibt wenig Wahlfreiheit: Einige der neuen digitalen Walkmen geben neben MP3 auch WMA wieder. Player für Sony Atrac3 sind noch rar.

Die Anwender selbst zeigen wenig Neigung, sich von MP3 zu verabschieden – zumal viele bereits grosse Musiksammlungen in diesem Format besitzen. Für die Konsumenten sind die Verbesserungen marginal. Die überlegene Klangqualität von Ogg oder AAC vermag (bei normalen Dateigrössen) längst nicht jeder wahrzunehmen, und sie wird wettgemacht durch den Kopierschutz, welcher für den Konsumenten einen Nachteil bedeutet.

Solange sich aus der Flut der Nachfolger kein eindeutiger Favorit hervortut, werden die Musikfans MP3 sowieso die Treue halten. Ein würdiger Kronprinz ist gefragt, bis dato aber nicht in Sicht.

Das Magazin «c’t» bringt in der aktuellen Ausgabe 19 ab Seite 94 einen vergleichenden Hörtest der wichtigsten Audioformate.

Die neuen Formate bieten wenig Vorteile, aber handfeste Nachteile.


MP3 war erst der Anfang

Das kompakte Internet-Musikformat hat Herausforderer bekommen: MP3-Alternativen versprechen bessere Qualität, kleinere Dateien oder sollen mittels Kopierschutz die Interessen der Musikindustrie wahren. Die fünf meistversprechendsten Kandidaten:

  • MP3 (MP3 pro)
    Der Platzhirsch, erfunden vom Fraunhofer Institut.
    Vorteile: Grosse Verbreitung, reiche Auswahl an Soft- und Hardware-Playern; grösstes (meist illegales) Musikangebot im Internet
    Nachteil: Das Format ist nicht frei von Patenten; Softwareentwickler müssen bei legaler Verwendung Lizenzgebühren abführen
  • Windows Media Audio (WMA)
    Microsofts Format für Streaming und lokale Musiksammlungen
    Vorteile: Kleine Dateien bei annehmbarer Klangqualität; eignet sich für den Musik-Download und das Streaming; gute Unterstützung durch die Microsoft-Betriebssysteme und durch Hardware-Player
    Nachteil: Digital Rights Management-Technologie schränkt Nutzung ein
  • Ogg Vorbis
    Die Antwort der Open-Source-Gemeinde
    Vorteile: Nicht-proprietär und frei von Patenten, sehr gute Qualität v.a. bei niederen Bitraten
    Nachteil: Die Unterstützung durch die Industrie ist fraglich
  • Advanced Audio Coding (AAC)
    Entwicklung von AT&T, Dolby, Sony und Fraunhofer
    Vorteil: Gilt als bestes Audio-Format: Auch bei halber Dateigrösse klingt AAC besser als MP3.
    Nachteil: Der Kopierschutzmechanismus schränkt die Nutzungsmöglichkeiten ein
  • ATRAC3
    Sony hat aus dem MiniDisc-Format einen MP3-Konkurrenten gemacht.
    Vorteil: kleine Dateien
    Nachteile: Qualitativ kommt Atrac3 nicht an MP3 heran; Kopierschutz; hat sich bisher vor allem im Streaming-Bereich mit dem RealPlayer Verbreitung gefunden

Quelle: Tages-Anzeiger, Montag, 16. September 2002

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Thema: Hauptgeschichte
Nr: 4149
Ausgabe: 02-916
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