Die Pokémons kommen

Plötzlich wollen alle Monster jagen

«Pokémon Go» bricht sämtliche Rekorde. Das Erfolgsgeheimnis sei simpel, sagt ein Schweizer Gamedesigner.

Matthias Schüssler

Das bisher grösste Ereignis des Jahres in der digitalen Welt ist nicht das neue iPhone, die Linkedin-Übernahme durch Microsoft oder irgendeine neue Datenlücke – nein, es ist ein Computerspiel. Kleine, knuffige Monster, die sich direkt aus den 90er-Jahren auf die Smartphone-Bildschirme beamen und für flashmobartige Zusammenrottungen sorgen. Zum Beispiel im Central Park in New York, wo sich Dutzende von Menschen treffen, den Blick starr aufs Handy gerichtet und wild über den Bildschirm wischend.

Das Spiel heisst «Pokémon Go». Es verbindet das Spielgeschehen mit der realen Welt. Der Spieler muss in seiner (realen) Umgebung kleine Monster aufspüren und einfangen. Das trifft den Nerv der Zeit und wirft jede Menge Schlagzeilen ab: Da gibt es Spieler, die sich bei der Monsterjagd Verletzungen zugezogen haben. Bewaffnete Räuber, die an Orten lauern, wo viele digitale Monster zu finden sind. Und da gibt es den Fall der 19-jährigen Shayla Wiggins. Sie hat im ländlichen Wyoming statt eines Pokémons eine Wasserleiche aufgespürt.

Was sagt die Nasa zu dem Hype?

Nicht nur das: Die Nasa hat sich zur Frage geäussert, ob die Monster nur auf der Erde oder auch im All zu finden sind. Offizielle Antwort: Nein, die Astronauten an Bord der ISS hätten zwar Smartphones, müssten diese aber für Forschungszwecke verwenden. «Pokémon Go» hat auch schon mit einem Datenschutzskandal (der keiner war) für Aufregung gesorgt und Cyberkriminelle angezogen, die mit Schadsoftware durchsetzte Varianten in Umlauf brachten. Und es gibt bereits Verschwörungstheoretiker, die einen geschickten Schachzug der staatlichen Organe vermuten: Das Spiel soll seine Nutzer trainieren, Daten über sich selbst zu sammeln – zuhanden der Geheimdienste, versteht sich.

«Pokémon Go» hat sich quasi vom Fleck weg an die Spitze der App-Hitparaden gesetzt und in Sachen Umsatz auch Schwergewichte wie «Candy Crush Saga» hinter sich gelassen. Nintendo seinerseits hat an der Börse einen Kurssprung hingelegt und innert zwei Tagen 7,5 Milliarden US-Dollar an Wert gewonnen. Das Spiel ist schon auf mehr Android-Telefonen installiert als die Dating-App Tinder, und es könnte bald auch Twitter überholen.

Eine 20 Jahre alte Computerspiel-Franchise, die einen derartigen Erfolgssturm hinlegt? Matthias Sala ist davon nicht überrascht: «Dies ist sicher auf die starke Marke zurückzuführen – alle haben Freude an Pokémon», sagt der Game-Entwickler, der seit knapp 10 Jahren Spiele entwickelt, die genau wie «Pokémon Go» Spiele mit der wirklichen Welt verbinden. Nein, sagt er, Neid empfinde er nicht, dass nun die Konkurrenz so abhebt. «Es ist eine Chance: Wir entwickeln auch weiterhin unsere Spiele. Die Leute verstehen mit zunehmender Bekanntheit des Genres, wie es funktioniert.»

Die Zeit ist reif

Dass Pokémon gerade jetzt so abhebt, kommt für Sala nicht von ungefähr. Zum einen sind die Smartphones heute viel leistungsfähiger als die Geräte der Vor-iPhone-Ära. Doch ausschlaggebend ist ein anderer Punkt: «Damals waren die Leute mit einfacheren Klickspielen zu begeistern. Was hat man damals gespielt? Dinge wie ‹Doodle Jump›! Heute ist die Zeit reif für kompliziertere, anspruchsvollere Missionen.»

Für Sala eine Genugtuung, dass ein alter Vorwurf nicht mehr greift – dass Videogamer nur im dunklen Kämmerlein vor dem Bildschirm hocken. «Ein 16-Jähriger, der im Nationalpark die Gegend erkundet: Das ist das Gegenteil von dem, was das Klischee besagt. Natürlich freut mich das als Game-Designer.»

Noch nicht im CH-Store Wie Sie das Spiel trotzdem laden
pokemon.tagesanzeiger.ch

Wie Flashmobs in den Strassen: Wo viele Monster sind, rotten sich die Spieler zusammen. Foto: Drew Angerer (Getty Images)

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 13. Juli 2016

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