Will die EU Open Source abschaffen?

Alarmstimmung bei den Vertretern der freien Software: Eine neue Gesetzesregelung der Europäischen Union werde das ganze Internet ins Wanken bringen, sagen sie.

Matthias Schüssler

Es ist nicht ungewöhnlich, dass Interessenvertreter mit Extremszenarien operieren, wenn es um die Bekämpfung von Gefahren neuer, missliebiger Gesetze geht. Denn mit moderaten Prognosen lässt sich die Öffentlichkeit kaum mobilisieren. Dennoch lässt aufhorchen, wenn die Befürworter freier Software nun gleich den Untergang des (digitalisierten) Abendlandes heraufbeschwören: Ein Gesetzesentwurf der EU gefährde die Technik, die unsere moderne Welt antreibe, insinuiert ein offener Brief von dieser Woche, der in der Open-Source-Community auf breiter Front mitgetragen wird: «Dein Mobiltelefon, dein Auto, dein WLAN-Router zu Hause, dein Fernseher, das Flugzeug, mit dem du in die Ferien fliegst – sie alle enthalten freie und offene Software.»

Illegales an der Quelle filtern

Auslöser ist Artikel 13 einer neuen Urheberrechtsrichtlinie der EU, über die das EU-Parlament noch in diesem Jahr abstimmen soll. Die EU will beim Kampf für das geistige Eigentum auch die Internetplattformen in die Pflicht nehmen, über die Softwareentwickler ihren Programmcode tauschen. Betroffen wären Dienste wie GitHub, Stack Overflow und GitLab, die in der Softwareentwicklung längst eine zentrale Rolle spielen. Die Betreiber müssten mittels Uploadfilter sicherstellen, dass die Nutzer kein illegales Material hochladen. In einer Variante des Artikels 13 wären die Plattformen sogar haftbar für Urheberrechtsverletzungen der Nutzer.

Solche automatisierten Kontrollen sind bei vielen Plattformen üblich. Youtube setzt seit Jahren ein System namens Content ID ein. Es gleicht hochgeladene Videos mit einer Datenbank ab, in der Rechteinhaber ihre geschützten Inhalte hinterlegen. Verwendet ein Youtuber zum Beispiel ohne Lizenz einen Popsong im Video, wird automatisch ein Content-ID-Anspruch erhoben. Er führt zu einer Sperrung oder einer Stummschaltung. Ausserdem schaltet Youtube bei diesen Videos keine Werbung.

Die Tücken automatischer Blockierungssysteme

Die Content-ID ist umstritten, weil das automatische System auch Videos blockiert, die sich auf Fair Use berufen. Dieses US-amerikanische Rechtsprinzip erlaubt die nicht lizenzierte Verwendung etwa für Kritiken und Kommentare, journalistische Berichterstattung oder für den Unterricht. Und manchmal schiesst die Content-ID auch übers Ziel hinaus. 2015 wurde ein kurioser Fall eines inkriminierten Katzenvideos publik: In dem einstündigen Clip des schnurrenden Stubentigers Phantom erkannte der Musikverlag EMI seinen Song «Focus».

Trotz dieser Kritik kann man Youtubes Content-ID als Beleg dafür sehen, dass solche automatisierten Filter keineswegs existenzgefährdend für Plattformen mit nutzergenerierten Inhalten sind. Übertreiben die Open-Source-Advokaten womöglich?

Das halbe Netz ist betroffen

Die digitale Bürgerrechtsorganisation Electronic Frontier Foundation (EFF) postuliert die fundamentalen Unterschiede zu den geplanten Filtern: Die Content-ID beziehe sich nur auf Videos und Fotos, doch gemäss Artikel 13 wären jegliche Inhalte betroffen. Er bezieht sich auf, Zitat, «Diensteanbieter der Informationsgesellschaft» – was gemäss der EFF auch auf viele andere Angebote im Netz zuträfe: Von der Bloggingplattform Tumblr über die Kunst-Community DeviantArt bis hin zum Webarchiv Archive.org oder zu Wikipedia. Manche Medien, wie das Newsportal Futurezone.at, sehen denn auch schon das «freie Wissen» im Netz per se in Gefahr.

Ironisch ist jedenfalls, dass die Reform unter der estnischen EU-Ratsherrschaft vorangetrieben wird – wo Estland als «digitalster Staat von Europa» gilt.

Eine neue Regelung zum Urheberrecht könnte nicht nur die Entwickler von Open-Source-Programmen in die Bredouille bringen, sondern auch Wikipedia, das Internetarchiv und andere Plattformen. Bild: Markus Spiske/freeforcommercialuse.net

Quelle: Newsnetz, Dienstag, 3. Oktober 2017

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