5 Parallelen zur Musik

Wenn Apps zu Sommerhits werden

Die richtige App zur Ferienzeit ist wie der perfekte Gassenhauer. Welche der erste Hype war, welche zum Evergreen wurde. Und welche App diesen Sommer angesagt ist.

Matthias Schüssler

Hype auf dem Handy: 2016 bescherte Nintendo den App-Stores mit «Pokémon Go» millionenfache Downloads.

Der Sommerhit ist eine Institution: jener Song, der die ganze Zeit im Radio läuft und einem in den Strandbars der einschlägigen Reisedestinationen nonstop um die Ohren gehauen wird. Er vermittelt ein Feriengefühl und führt dazu, dass man die einzelnen Jahre unterscheiden kann, selbst wenn man immer nur am Strand gelegen hat: «2010? Da war das grässliche ‹We No Speak Americano› angesagt und wir in diesem muffigen Hotel auf Rhodos.»

1. Parallele: Kurze, kollektive Begeisterung

Nun scheint sich das Phänomen des Sommerhits auch bei den Smartphones zu etablieren: Zum Start der Feriensaison taucht wie aus dem Nichts eine App auf, die alle mit Begeisterung verwenden. Und genau wie in der Musik ist der Hype vorbei, sobald man mit seinen Koffern und dem Sonnenbrand wieder vor der eigenen Haustür steht.

Während das Phänomen in der Musik in die 1950er-Jahre zurückgeht und gemäss Wikipedia mit «Summertime Blues» von Eddie Cochran seinen Anfang nahm, haben wir den ersten Smartphone-Sommerhit im Jahr 2016 verzeichnet: Damals war das Handyspiel «Pokémon Go» selbst der «Tagesschau» einen Bericht wert, weil es Millionen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen vor die Tür lockte.

2. Parallele: Aus dem Hit wird ein Evergreen

Es gibt eine weitere Parallele zwischen den Apps und der Musik: Wie die Pop-Rock-Sommerhits haben die Hype-Apps die Chance, vom Chart-Erfolg zum Evergreen zu mutieren – zumindest, wenn sie nicht allzu aufdringlich auf Ohrwurm produziert worden sind, sodass sie irgendwann nur noch nerven. Das gilt für den Sommerhit schlechthin, «In the Summertime» von Mungo Jerry, aber auch für die 2013er-Nummer «Wake Me Up» von Avicii, die man beide dem Radiopublikum auch heute noch zumuten darf.

Die Hit-Apps der letzten Jahre

Auch die Erfolgs-Apps haben die Chance, die kurzfristige Aufmerksamkeit in den Massenmedien und sozialen Medien in langfristige Einnahmen umzumünzen. Wie zum Beispiel «Pokémon Go». Die App ist aus dem medialen Fokus verschwunden und hat in den letzten fünf Jahren annähernd die Hälfte der Nutzer verloren. Doch den Umsatz konnte sie über die Jahre sogar steigern: Im letzten Jahr hat sie sagenhafte 1,23 Milliarden Dollar generiert.

«Chue am Waldrand»: Solche und ähnliche Fotos waren 2016 wegen der «Prisma»-App allgegenwärtig.

Die Kunst-App «Prisma», die ebenfalls 2016 innert Tagen in 77 Ländern in die Top Ten schoss, ist komplett aus den sozialen Medien verschwunden. Kein Wunder, denn wie von mancher Popmusik bekommt man auch vom «Prisma»-Effekt schnell genug: Die App verwandelt Fotos auf eine Weise, dass sie aussehen wie von Mondrian, Mangas oder Monet gemalt.

Ihr Erfolg rief diverse Trittbrettfahrer auf den Plan, die den Gewöhnungseffekt noch verstärkt haben. Trotzdem kommt sie weiterhin auf gute Downloadzahlen und generiert dank diverser Abo-Möglichkeiten sicherlich auch gutes Geld für den Hersteller.

3. Parallele: Simpel und eingängig muss es sein

Damit liegen die beiden Erfolgsrezepte für einen App-Sommerhit auf der Hand: Entweder fabriziert man ein Game, das die Nutzer während der freien Tage beschäftigt; oder man erfindet eine App, die langweilige Ferienfotos und Selfies interessanter machen – am besten mittels künstlicher Intelligenz.

Das war auch der Trick der Hype-App vom Sommer 2019: Die «FaceApp» verkleidet einen auf digitalem Weg, ändert die Frisur, schminkt einen virtuell oder macht den Nutzer künstlich älter oder jünger. Eine Kontroverse um den Datenschutz – die darauf beruhte, dass der Entwickler aus Russland stammt – verlieh dieser App zusätzliche mediale Aufmerksamkeit.

Die «FaceApp» hat vor zwei Jahren die Gemüter bewegt: Sie machte uns älter oder auch jünger und androgyner.

Sogar im letzten Jahr, Corona zum Trotz, gab es eine App, die mit dem inzwischen bewährten Prinzip operierte: Im Sommer 2020 haben unzählige Leute mit «Doublicat» ihr Gesicht in die Sequenz eines Hollywoodfilms eingefügt und sind beispielsweise anstelle von Johnny Depp in «Pirates of the Caribbean» aufgetreten.

Diese Apps sind allesamt so einfach zu verwenden, dass man selbst mit einem Drink in der Hand an der Strandbar in ein paar Minuten am Ziel ist: Man macht ein Bild, sucht den Effekt, der einem am besten gefällt, und teilt das Werk mit der Welt – fertig.

Auch der «Doublicat»-Effekt ist beim ersten Mal lustig – doch wenn man ihn beim hundersten Mal sieht, wünscht man ihn auf den Mond.

4. Parallele: Schöner als das richtige Leben

«Voilà» hat die Chance, zur Hype-App von 2021 zu werden. Sie macht etwas Ähnliches wie ihre Vorgänger: Mittels künstlicher Intelligenz verwandelt sie uns in Disney- oder «Toy Story»-artige Cartoonfiguren.

Und noch etwas ist augenfällig: So schön, wie diese App unsere Selfies zeichnet, sind wir im Leben nicht. Diese Überhöhung ist eine Masche, die zur immer fröhlichen Stimmung der entspannungsorientierten Unterhaltungsmusik passt, in der die Sonne immer scheint und nicht nur der Sommer, sondern auch die Liebe endlos währt.

2021 verwandelt die «Voilà»-App die Nutzer in Figuren, die jederzeit eine Nebenrolle in einem Animationsfilm erhalten würden.

Eine zweite App, die das Potenzial zum Sommerhit hat, ist «Wombo»: Sie transformiert ein Selfie-Bild in ein kurzes Musikvideo, in dem man mit den Mitteln des «Deep Fake» Songs wie «I Will Survive», «Thriller» von Michael Jackson oder «I Feel Good» von James Brown lippensynchron zum Besten gibt. Bei «Wombo» kommen Musik und Apps wortwörtlich zusammen – eigentlich perfekt für die Spitze der Charts. Doch diese App hat das Timing verhauen. Sie kam schon im März auf den Markt und hat ihr Pulver für den grossen Sommerhit 2021 vorzeitig verschossen.

5. Parallele: Kein Hit lässt sich erzwingen

Wie bei der Musik lässt sich auch im App Store ein Hit nicht erzwingen. Die Softwarefirma Niantic versuchte 2019, ihren Erfolg mit «Pokémon Go» zu wiederholen, und brachte das im Harry-Potter-Universum angesiedelte Spiel «Wizards Unite» auf den Markt.

Fast zwei Jahre lang hatte Niantic den Rummel befeuert und die Erwartungen ins Unermessliche gesteigert, um dann nicht rechtzeitig liefern zu können: «Wizards Unite» war für Weihnachten 2018 geplant und kam wegen einer sechsmonatigen Verspätung zur Ehre, Sommerhit-Anwärter von 2019 zu werden. Doch das Spiel wurde ein kapitaler Flop: Klar, «Last Christmas» von Wham wäre im Juli 1985 auch nicht zum Liebling der Discobesucher auf dem Ballermann avanciert.

Quelle: Newsnetz, Mittwoch, 7. Juli 2021

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