Schattenplätzchen im Internet

Dark Social klingt nach einem neuen, beunruhigenden Trend in den sozialen Medien. Auch wenn er nicht ganz harmlos ist, bedeutet er für die Nutzer, dass sie nicht auf Schritt und Tritt nachverfolgbar sind, wie datenhungrige Unternehmen das gerne hätten.

Matthias Schüssler

Im Internet scheint die Sonne nicht überallhin. Da gibt es das Darknet, ein Netz im Netz, in dem Drogen, Medikamente, Waffen und geklaute digitale Identitäten verdealt werden. Auch ins «tiefe Web» kommt kein Licht: Das sind die Bereiche, die von den Suchmaschinen nicht erfasst werden. Die Inhalte dort sind nur zugänglich, wenn man weiss, wo man nach ihnen suchen muss. Oft sind sie nur für ausgewählte Besucherkreise relevant.

Und schliesslich «Dark Social». Der Begriff klingt unheilvoll in einer Zeit, wo sich Politik und Gesellschaft überlegen, wie die sozialen Medien zu kontrollieren und regulieren wären, damit die grossen Plattformen nicht Fake News und Propaganda verbreiten, Wahlen beeinflussen, das Klima vergiften und Schindluder mit privaten Daten treiben. Zwar liegt bei Facebook, Twitter und Co. vieles im Argen. Doch die Öffentlichkeit schaut inzwischen genauer hin und zitiert Facebook-Chef Mark Zuckerberg nach Datenskandalen sogar vor Parlamente.

Im Ursprung ist der Begriff Dark Social trotz des ominösen Untertons harmlos: Alexis Madrigal von der Zeitschrift «The Atlantic» hat ihn geprägt. Er besagt, dass Websitebetreiber bei einem gewissen Teil der Besucher nicht sagen können, woher sie kommen. Normalerweise beantwortet der Referrer diese Frage. Er übermittelt bei einem Websiteaufruf die vorherige Adresse. Ein Websitebetreiber erfährt, wie ein Besucher auf eine bestimmte Site gelangt ist: Es ist ersichtlich, ob sie über die Startseite aufgerufen wurde, bei Google gefunden, bei Facebook angeklickt wurde oder auf einer anderen Site verlinkt ist.

Bei einem Teil der Besucher gibt es keinen Referrer. Das kann bedeuten, dass der Internetnutzer den Link direkt eingetippt oder über ein Lesezeichen aufgerufen hat. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass er ihn per E-Mail, mittels Whatsapp-Nachricht oder über irgendeine andere Chat-App erhalten hat.

Woher kommen all die Leute?

Nun kann der Dark-Social-Anteil beträchtlich sein. Madrigal von «The Atlantic» hat ihn bei der Website seiner Zeitschrift seinerzeit auf über 50 Prozent beziffert. Das ist deutlich mehr als die 21 Prozent von Facebook. Inzwischen ist der Dark-Social-Anteil noch grösser geworden. Das Werbetechnologie-Unternehmen Rhythmone.com beziffert ihn global auf kolossale 84 Prozent.

Dark Social stellt das Geschäftsmodell der «normalen» sozialen Medien und der Werbetreibenden infrage: Wieso sollten Unternehmen weiterhin pro Monat mehr als eine Milliarde US-Dollar auf Facebook für mobile Werbung ausgeben, wenn die meisten Nutzer ihren Weg nicht via Facebook, sondern «von alleine» bzw. auf anderen, verschlungenen Pfaden auf die Firmenwebsite finden?

Diese blinde Stelle geht der Branche gehörig gegen den Strich. Das belegen unzählige Einträge auf Marketingblogs. Sie tragen Titel wie «Warum Sie und Ihr Unternehmen Dark Social nicht länger ignorieren dürfen» oder ähnlich. Auch wenn es eine Kampfansage ist, bleibt die Tonalität meistens optimistisch: «Dark Social ist überall, eine riesige Chance!» Es gibt denn auch Hinweise auf Methoden, mit denen man «Licht ins letzte Dunkel» bringt – und Möglichkeiten, sich davor zu schützen.

Nutzer ab 55 Jahren sind gewohnt, Inhalte fast ausschliesslich «dark» zu teilen, hat Rhythmone.com herausgefunden. Diese Generation ist dem E-Mail nach wie vor so verbunden, dass sie es intensiv fürs «Sharing» nutzt. Zum Einsatz kommen dafür auch gerne von Hand gepflegte Mailinglisten.

Rhythmone.com sieht nicht nur Unterschiede bei den Generationen, sondern auch bei den Branchen: Informationen zu Bildung, Religion, Gesundheit und Fitness werden oft direkt weitergegeben. News, Sport, Tech landen dagegen häufig bei Facebook und Twitter.

Es handle sich bei Dark Social aber nicht nur um ein technisches Phänomen, findet Sascha Lobo. Für den Vordenker der deutschsprachigen Netzgemeinde nimmt Dark Social zu, weil «ein grosser digitaler Rückzug ins Private» stattfindet: Die Jugend sei äusserst aktiv im Netz, jedoch vor allem in nicht oder halb öffentlichen Räumen. Gemeint sind Gruppenchats, zum Beispiel bei Whatsapp oder Snapchat. Schuld sei die Krise der (öffentlichen) sozialen Medien, die die anhaltende Debatte um Facebook ausgelöst hat, diagnostiziert Lobo.

Es gibt ein Problem mit diesem Rückzug ins Private: Was diskutiert wird, ist für Aussenstehende überhaupt nicht mehr sichtbar. Damit unterscheiden sich Gruppenchats in den Messengern von Twitter und Facebook, wo viele Diskussionen für die Öffentlichkeit mitverfolgbar bleiben. Das erlaubt es, Beiträge zu melden und zu moderieren und eine gewisse Kontrolle auszuüben.

Keinerlei Kontrolle möglich

Diese Kontrolle ist bei Messengern nicht vorgesehen und wegen der Verschlüsselung nicht möglich. Fälle aus Indien, Kenia und den USA zeigen, wie Whatsapp für die Verbreitung von Fake News, zum Aufruf zu Hass und Gewalt und für Wahlbeeinflussungen genutzt wird. Die «Washington Post» hat im Oktober 2017 darüber geschrieben, wie die Unabhängigkeitswahl in Katalonien durch Fake News beeinflusst worden sei.

Es kamen diverse Bilder von vermeintlicher Polizeibrutalität in Umlauf, zum Beispiel das einer Frau, die vom Wählen abgehalten worden sei, indem man ihr die Finger gebrochen habe. Die «Washington Post» zitierte eine spanische Journalistin, die meinte, die Medien würden solche Falschmeldungen natürlich aufdecken: «Aber weil Whatsapp ein so privates Netzwerk ist, können wir das nur tun, wenn uns jemand eine solche Falschmeldung weiterleitet.»

Ist Tracking also für die Katz?

Ist diese Sache mit den sozialen Medien also noch schlimmer, als wir bis jetzt befürchtet haben? Nicht unbedingt – denn aus Nutzersicht gibt es einen verblüffend positiven Aspekt: Unternehmen, die Werbebranche und Datensammler betreiben einen beträchtlichen Aufwand, um Daten über alle Netzbenutzer zu sammeln. Sie setzen sich massiver Kritik von Datenschützern und Privatsphären-Fürsprechern aus – und trotz des ganzen Trackingaufwands lässt sich bei einem sehr grossen Teil der Nutzer noch nicht einmal sagen, wie sie auf einen bestimmten Inhalt gestossen sind?

Bemerkenswert! Allen Tricks zum Trotz scheint sich ein grosser Teil der Nutzerschaft instinktiv so zu verhalten, dass Datensammler ins Leere laufen.

Unternehmen im Netz können auf zwei Arten auf Dark Social reagieren: entweder mit noch stärkeren Suchscheinwerfern und noch mehr Tracking. Oder mit einem Umdenken: Da es nicht so effektiv ist und die Kommunikation im Grunde auch so ganz gut funktioniert – könnte man da das Tracking nicht auch einfach ganz bleiben lassen?

Viele wehren sich erfolgreich, zum komplett transparenten Internetnutzer zu werden. Foto: Ignacio Ruiz Casanellas (Alamy Stock Photo)

Anleitung

So nutzen Sie Dark Social

  • Wenn Sie einen Artikel weitergeben möchten, kopieren Sie die Adresse aus dem Adressfeld des Browsers und fügen Sie sie am Zielort, etwa im E-Mail-Programm, ein.
  • Vermeiden Sie die «Teilen»-Knöpfe auf den Websites: Wenn Sie die benutzen, werden oft Codes an die Adresse angehängt, die Auskunft über die Art der Verbreitung geben.
  • Falls Sie mit dem Aufbau von Internetadressen vertraut sind, dann löschen Sie Codes wie «?utm_source=facebook.com» heraus – diese sind nämlich nur dazu da, Publikumsströme zu verfolgen.
  • Verwenden Sie die neue Erweiterung Facebook Container, die Mozilla für Firefox bereitstellt. Sie kapselt das soziale Netzwerk so ab, dass es Aktivitäten auf anderen Websites nicht beobachten kann.
  • Berücksichtigen Sie die Tipps unter: darksocial.tagesanzeiger.ch. (schü.)

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 4. Juli 2018

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