Venus gebiert ihr siebtes Baby

Sie hatte uns noch gefehlt: Die neue Version des Illustrators. Die zurückliegende Aufrüstungsrunde hatte bekanntermassen ohne das Vektorbearbeitungsprogramm stattgefunden, doch jetzt hat Adobe mit der Lancierung der Version 7 die Lücke geschlossen. Macintosh-Besitzer können sich den Kauf der neuen Version zweimal überlegen, aber für Windows-Anwender kommt der Aufstieg von Version 4 auf 7 einem Quantensprung gleich. Illustrator 7 – ein Grund, Corel & Co. in die Wüste zu schicken?

Die Lancierung – oder «Launch», wie es im Adobe-Jargon heisst – hatte ohne grosse Vorankündigung stattgefunden und kam einem Überraschungscoup gleich. Beim Erscheinen dieses Publishers steht die Software bereits in den Gestellen und somit bleibt nicht viel Zeit für die Vorfreude. Ob Vorfreude überhaupt angebracht ist, wollten wir durch ausgiebige Tests feststellen; dafür stand uns eine Betaversion zur Verfügung.

Mac: Verbesserungen im Kleinen

Mac-Benutzer haben indes nicht allzuviel Veranlassung für Vorfreude. Gemessen an der Version 6 bringt das Update keine revolutionär neuen Tools, die den Aufstieg zwingend machen. Im Detailbereich hat sich doch einiges getan, doch ob die Summe der Neuerungen ein Update rechtfertigt, ist wohl von Fall zu Fall zu entscheiden. Wichtigster Punkt ist verbesserte Integrierung in Adobes Produktefamilie. Die Benutzeroberfläche wurde dem Standard noch weiter angeglichen, so dass die parallele Nutzung verschiedener Adobe-Applikationen noch leichter fallen sollte. Bei den Paletten (siehe Screenshots unten) haben teilweise markante Umbesetzungen stattgefunden: Die Flächen- und Konturoptionen wechselten von der Palette «Grafikattribute» in die Funktionspalette hinüber. Dafür wurde die Farbauswahl und die vordefinierten Farben («swatches») in je eine eigene Farbpalette ausgelagert.

Auch Tastaturkürzel wurden teilweise angeglichen. Dass solche Massnahmen aber nicht nur eitel Freude auslösen, ist ein offenes Geheimnis. Wenn ein Tastaturbefehl, der einem im Lauf der Zeit in Fleisch und Blut übergegangen ist, plötzlich völlig ungewollte Aktionen auslöst, lässt einen das nicht gerade ein Loblied auf den Programmhersteller anstimmen. Abgesehen davon sind die Bemühungen Adobes um Einheitlichkeit zu loben. Die Paletten der Programme PageMaker, Photoshop und Illustrator sehen sich, bis auf die programmspezifischen Funktionen natürlich, zum Verwechseln ähnlich. Illustrator unterstützt jetzt auch die neuen Paletten, welche sich per Drag und Drop kombinieren oder auseinanderdröseln lassen. Adobe nennt diese Werkzeuge «tabulatorgesteuerte Paletten». Wahrscheinlich wurde das englische «Tabbed Palettes» falsch übersetzt – «tab» meint hier ja nicht Tabulator, sondern Karteikartenreiter. Schliesslich funktionieren diese Paletten so, dass man die einzelnen Register so zusammenstellen kann, wie es einem am besten behagt.

Déjà-vu-Erlebnisse

Auch die Menüs sind so gestaltet, das Gleiches oder Vergleichbares in jedem Programm an derselben Stelle zu finden ist. Es gibt ein kontextsensitives Popup-Menü, das per rechtem Mausklick die gängigsten Befehle anbietet. Mac-Benützer, die ja ein Dasein mit nur einer Maustaste fristen müssen, können das Kontextmenü durch Linksklick bei gedrückter Controltaste erreichen.

Kommunikation, Datenverkehr

Illustrator 7 unterstützt alle Rasterbildformate von Photoshop 4 und dank einer neuen Caching-Technologie erst noch mit gesteigerter Geschwindigkeit. Darüber hinaus können Rasterbilder auch wie im PageMaker ohne vollständiges Kopieren über eine Verknüpfung in die Grafik übernommen werden. Aber auch sonst hat Adobe die Kommunikation unter den einzelnen Programmen verbessert: Alle Adobe-Applikationen sind in der Lage, untereinander mittels Drag & Drop Daten auszutauschen und Doch nicht nur zwischen den Programmen, auch zwischen den Plattformen soll Kompatibilität und Datenverkehr herrschen: Die Illustrator-Versionen für Mac, PowerMac und Windows 95/NT sind nun durchgängig gleich zu bedienen. Ausserdem kann man mit dem Illustrator 7 jede AI-Datei öffnen, egal mit welcher Version auf welcher Plattform sie gespeichert wurde.

Freche Festplatten-Okkupation

Unverständlich angesichts der «Gleichschaltung» innerhalb der dreiköpfigen Adobe-Familie ist dagegen, dass die Entwickler nicht auch auf eine gemeinsame Codebasis abstellen. Jedes Programm installiert frischfröhlich megabyteweise Programmbibliotheken, als ob es die Festplatte für sich alleine hätte. Haarsträubendstes Beispiel für diesen Fall: Die Photoshop-Effektfilter, welche in allen drei Programmen benützt werden können, werden nicht etwa zentral in ein allgemeinzugängliches Verzeichnis kopiert, nein, jedes der drei Programme führt dieselben Dateien in einem eigenen Unterverzeichnis. Auch Illustrator verschwendet keinen Augenblick damit, zu kontrollieren, was der Benutzer schon auf seiner Festplatte haben könnte, sondern liefert nochmals das ganze Sortiment. So findet man also neben den Filtern, die man schon zweimal hatte, noch ein Wörterbuch für die Rechtschreibekorrektur und Silbentrennung. Ich lobe Microsoft ja nur sehr ungern, aber Office 97 macht vor, wie man Programmteile effizient gemeinsam nutzt.

Jedenfalls empfiehlt es sich, im Illustrator-Ordner das Verzeichnis mit den Photoshop-Filtern unverzüglich zu löschen und mittels «Datei» – «Voreinstellungen» – «Zusatzmodule & virtueller Speicher» die Filter der Photoshop-Installation zu verwenden. Es spart nicht enorm viel Platz, aber immerhin.

Automatische ImageMaps

In der Farbverwaltung hat sich einiges getan. Illustrator unterstützt nun auch RGB-Farbauswahl, was Publishern zugute kommt, die für Bildschirm-Medien produzieren. Die Verwendung von Illustrator-Grafiken in Page- oder SiteMill oder in Premiere wird durch das Vermeiden von CMYK-Farben einfacher. Ebenfalls an die Gestalter von Web-Seiten haben die Adobe-Entwickler gedacht, als sie die Möglichkeit implementierten, Objekte mit einer URL zu verbinden. Bei der Konvertierung der Vektorgrafik ins internettaugliche GIF89a-Format werden diese Link-Informationen automatisch in eine Image-Map umgesetzt.

Eine weitere Neuerung ist die Unterstützung von Zweibyte-Schriften. Damit wird es möglich, japanische, chinesische oder koreanische Illustrator-Dateien anzuzeigen und zu bearbeiten, ohne sich ein Betriebssystem und eine Programmversion in der entsprechenden Sprache besorgen zu müssen. Den meisten Benutzern hierzulande wird diese Funktion allerdings kaum etwas bringen – wer aber mit fernöstlichen AI-Dateien zu tun hat, für den wird sie eine unschätzbare Erleichterung bedeuten. Im Zusammenhang mit Zweibyte-Schriften kann Illustrator Schrift (auch romanischer Herkunft) neu vertikal setzen.

Hilfslinien für den Mac

In einem Punkt hatte die Version 6 gegenüber der aktuellsten Windows-Version 4.1 Aufholbedarf: Bei den Hilfslinien. Mit Version 7 haben jetzt auch die Apple-Benützer die Möglichkeit, nichtdruckende Hilfslinien zu verwenden. Farbe und Stil der Hilfslinien ist dabei frei definierbar. Als neues Werkzeug ist das Reshape-Tool hinzugekommen, das beim Bearbeiten von Pfaden oder Pfad-Gruppen hilft. Das Reshape-Werkzeug modifiziert die Gesamtform eines Pfades, während die Details erhalten bleiben, unabhängig von der Zahl der Ankerpunkte im jeweiligen Bereich.

Windows: Quantensprung von 4.1 auf 7

Für Windows-Benutzer ist vieles, was Mac-Anwender schon kennen, dagegen völliges Neuland. Illustrator 4.1 für Windows kannte weder eine Verlaufs- noch eine Ebenenpalette. Effizentes Transformieren war nicht möglich (keine Transformier-Palette), und auch für das Ausrichten von Objekten fehlte ein geeignetes Werkzeug. Angesichts der Fülle von Neuerungen sind Details wie mehrfacher Widerruf und das Prädikat «Windows 95-kompatibel» schon fast nicht mehr erwähnenswert. Wichtiger sind nämlich mit Bestimmtheit die integrierte Farbseparation und die Pathfinder-Filter, die nun auch Einzug auf Windows-Maschinen gehalten haben. Wir beschreiben die Arbeitsweise dieser Filter rechts.

Die einschneidensten Veränderungen haben sich (zumindest aus Mac-Sicht) wohl hinter den Kulissen abgespielt: Als erstes Adobe-Produkt unterstützt Illustrator 7 PostScript Level 3. Insofern war es sicherlich ein guter Entscheid von Adobe, mit dem Release der neuen Illustrator-Version zuzuwarten, bis die Spezifikationen des neuen PostScript-Levels bis zur Implementierungsfähigkeit gediehen sind. Mit dieser Mitgift ist Illustrator 7 jedenfalls gut für die Zukunft gewappnet.

Matthias Schüssler

Facelifting: Adobe hat die Paletten (links Mac V6, rechts Windows V7) teilweise markant umgestellt.

Quelle: Publisher, Sonntag, 1. Juni 1997

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Thema: Praxistest mit Illustrator 7
Nr: 139
Ausgabe: 97-2
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Tabb: FALSCH