Analyse zu künstlicher Intelligenz
Peinliche Fehler und Nutzer, die nichts anklicken
Googles KI-Offensive macht die Suchmaschine schlechter. 6 Gründe, warum das Web als Hort des freien Wissens in Gefahr ist.
Matthias Schüssler
Die Schlagzeilen sind unheilschwanger: «Die KI frisst das Web», schreibt «Axios». «Die Websuche, wie wir sie kennen, ist am Ende», behauptet «Wired». «Web-Publisher müssen sich auf ein Blutbad gefasst machen», unkt die «Washington Post».
Der Grund für die düsteren Prognosen der Newsportale und Fachblogs ist eine Neuerung bei der Websuche. Google ergänzt die Resultate mit der «AI Overview». Die neue Funktion befindet sich in den USA im Testbetrieb, wann sie zu uns kommt, ist offen. Sie fügt einen Abschnitt in der Liste der Suchresultate ein, in dem die hauseigene Gemini-KI eine direkte Auskunft zu den Suchbegriffen liefert. Auf den ersten Blick also eine praktische, harmlose Sache.
Bei näherem Hinsehen gibt es handfeste Gründe für die Untergangsstimmung. Die neue KI scheint nämlich Kritikern recht zu geben. Sie unterstellen, Google sei dabei, vom Wissensvermittler zum Kontrolleur zu werden, der über den Fluss der Informationen herrscht. Das sind die Anhaltspunkte für diesen Vorwurf:
Google ist gewillt, die Besucherströme im Web zu lenken
Google hat um die 80 Prozent Marktanteil und entscheidet darüber, was gefunden wird und was nicht: Selbst kleine Änderungen an der Suchmaschine haben grosse Auswirkungen, wie viele Besucherinnen und Besucher bei einer Website ankommen – oder eben nicht.
Das hat Wikipedia in den letzten Jahren zu spüren bekommen. Zu bestimmten Suchanfragen zeigt Google in den sogenannten Knowledge-Panels schon auf der Trefferseite Wissen von Wikipedia zur Suchanfrage an. Das Analyseunternehmen Similar Web hat 2015 geschätzt, dass diese Auszüge das Online-Lexikon innerhalb eines halben Jahres eine halbe Milliarde Klicks kosten. Wikipedia-Gründer Jimmy Wales hat damals die alarmistische Berichterstattung kritisiert, aber eingeräumt, Wikipedia habe ein «langfristiges Problem mit abnehmendem Google-Traffic».
Google ist es recht, wenn keine Links angeklickt werden
Seit Jahren sind Tendenzen zu erkennen, dass der Konzern den Wissensdurst der Nutzerinnen und Nutzer lieber selbst befriedigt, statt sie auf Dritt-Websites weiterzuleiten. Er drapiert dazu um die eigentlichen Suchresultate immer mehr Informationen: Nebst den erwähnten Knowledge-Panels liefert Google Auskünfte zu Wetter, dem öffentlichen Verkehr, Börsenkursen und Finanzen, Rezepten, Filmen und Musik. Mit eigenen Diensten, namentlich Flights und Hotels, steht Google in Konkurrenz zu Diensten wie Expedia oder Booking.com.
Bei Suchbegriffen zu aktuellen Ereignissen und Sportergebnissen werden die passenden Schlagzeilen angezeigt, die den Newsbedarf vieler Nutzerinnen und Nutzer bereits decken: Wer nur den Endstand eines Eishockeymatches sehen will, muss sich nicht zur Nachrichten-Website durchklicken. Die Masseinheit für diesen Trend ist die steigende «Zero Click Search Rate»: Diese Zahl gibt an, bei wie vielen Suchanfragen kein einziges Resultat angeklickt wird. Wie gross sie ist, variiert stark; je nach Studie sind es fünfzig Prozent bis zwei Drittel.
Mit «AI Overviews» verändert sich die Google-Suche massiv
Die neue KI-Funktion ist erst ein paar Tage bei US-amerikanischen Nutzerinnen und Nutzern der Suchmaschine freigeschaltet. Bei unserem Test (per VPN über einen US-Server) mischte sich die KI auch längst nicht bei allen Suchanfragen ein. Sie scheint vor allem auf Alltagsfragen getrimmt zu sein: Nebst dem Verwendungszweck für den alten Computer gibt sie auch Empfehlungen zu gesundem Essen, für Yoga-Anfänger oder für angehende Astro-Fotografen. Wo sie erscheint, liefert sie ausführliche Informationen von mindestens einer halben Bildschirmseite Text.
Im Vergleich zu Bing ist auch die Geschwindigkeit auffällig, mit der die KI ihre Angaben liefert. Die Wartezeit ist zwar länger als bei einer klassischen Suche, aber schneller, als es typischerweise dauert, um die Suchtreffer zu sichten und zu beurteilen.
Google liefert mit den Erklärungen zwar auch Links zu passenden Websites. Die werden als Kästchen innerhalb des Beitrags angezeigt, sind aber weniger informativ und augenfällig als ein herkömmlicher Suchtreffer. (schü)
Die KI-Auskunft verdrängt die herkömmlichen Suchtreffer
«AI Overview» ist prominent platziert. Die Antwort der KI erscheint am Anfang der Resultate und füllt auch am Desktop-Bildschirm den ganzen sichtbaren Bereich. Für das erste Suchresultat muss mindestens eine halbe Seitenlänge nach unten gescrollt werden. Das dürfte die «Zero Click Search Rate» weiter nach oben treiben und Google ermöglichen, Nutzerinnen und Nutzer auf der eigenen Seite zu halten.
Die KI ist anfällig für Fehlinformationen
In der Kritik steht die neue Funktion auch wegen der inhaltlichen Qualität. Die KI bringt auch Fehlinformationen in Umlauf, namentlich den Irrglauben, Barack Obama sei Muslim. Ein ehemaliger Mitarbeiter des Ex-Präsidenten hat Googles Fehlaussage auf X dokumentiert. Und die KI verbreitet weiteren Unsinn. Auf die Frage, was man tun könne, wenn der Käse nicht an der Pizza hafte, gab sie den Tipp, eine «Achteltasse ungiftigen Klebstoffs in die Sosse zu geben». Diese Information konnte auf einen elf Jahre alten, scherzhaft gemeinten Post in einem Reddit-Forum zurückgeführt werden.
Gleich in doppelter Hinsicht gefährlich
Unter dem Strich ist «AI Overviews» gleich in zwei Belangen gefährlich: Erstens schwächt sie die Bemühungen um die Medienkompetenz. Google suggeriert, dass es dank der KI bald nicht mehr nötig ist, Suchtreffer zu sichten und zu bewerten. Doch diese mühsame Arbeit ist integraler Bestandteil jeder Webrecherche und unverzichtbar für alle, die sich umfassend informieren wollen.
Vor zwei Wochen hat Google viele Ankündigungen im KI-Bereich gemacht.
Zweitens gefährdet sie die «Demokratisierung des Wissens». Sie gilt als die grosse Errungenschaft des World Wide Web: Jede Person kann mit einem Smartphone und einem Internetzugang am gesammelten Menschheitswissen partizipieren. Auch selbst dazu beizutragen und eigene Inhalte ins Web zu bringen, gehört zum Verdienst des Web.
Doch nun erschwert Google mit seiner überhasteten KI-Offensive den Zugang zu den ein bis zwei Milliarden Websites im Netz. Google tut das aus Angst, gegenüber Open AI, Microsoft und Meta den Anschluss zu verlieren. Doch wenn Chat-GPT und die anderen KI weiter in unseren Alltag und die Arbeitswelt vordringen, ist es umso wichtiger, dass sich die Behauptungen der Bots auf herkömmliche Weise überprüfen lassen. Nur mit einer Kontrolle mittels klassischer Suchmaschine können wir sicher sein, dass uns die KI keinen Bären aufgebunden hat.
Ohne Web gäbe es die KI nicht, die jetzt das Web bedroht
Wird es zukünftig noch attraktiv sein, eine Website zu betreiben, wenn sie kaum mehr aufzufinden ist? Diese Frage ist deswegen paradox, weil das Web die künstliche Intelligenz überhaupt erst ermöglicht hat: Es braucht dessen uferlose Informationsmenge, um die Sprachmodelle zu trainieren und ihnen die Datenbasis zu geben, um auf jede Frage eine Antwort zu liefern. Die Techkonzerne sollten alles daran setzen, die Vielfalt zu erhalten, statt das Menschheitswissen monopolisieren zu wollen. Für Google müsste das heissen, sämtliche KI-Aktivitäten in ein eigenes Unternehmen auszulagern.