Wir müssen bei der KI auf Transparenz bestehen

Einordnung Der Fortschritt bei der künstlichen Intelligenz verläuft so rasant, dass uns schwindlig werden könnte. Selbst Technik-Enthusiasten fragen sich, ob wir uns nicht auf ein völlig unkontrollierbares Wagnis einlassen.

Matthias Schüssler

Vergangenen Herbst ging es los: Aus heiterem Himmel tauchten Bilder auf, die nicht von Menschenhand erschaffen, sondern von einer Software erzeugt worden sind. Die meisten dieser Werke waren ungelenk und künstlerisch fragwürdig. Doch trotzdem fühlte es sich an wie ein riesiger Sprung bei der digitalen Evolution: Die künstliche Intelligenz (KI) war uns zuvor hauptsächlich in Form von devoten Assistenten wie Siri oder Alexa begegnet.

Doch jetzt betätigte sie sich kreativ, mit einem offensichtlichen künstlerischen Anspruch. Und während wir uns noch fragten, ob Illustratoren und Grafiker nun um ihren Job bangen müssen, kam bereits Chat-GPT um die Ecke: Dieser Bot plauderte mit uns über Gott und die Welt. Er offenbarte zwar häufig Verständnislücken. Aber gleichzeitig demonstrierte er einen ungezügelten Drang, auf jede Frage eine Antwort zu liefern.

Seitdem ist kein Halten mehr: Wir erfahren, dass KIs Musik komponieren, Fotowettbewerbe gewinnen, Software entwickeln und Medikamente erschaffen. Dramatron hilft Autoren, Romane und Drehbücher zu schreiben. In Kolumbien zieht ein Richter den Chat-GPT-Bot für Urteile heran, und in London lässt das Unternehmen Intelligentx eine KI Bier brauen. KIs werden bald Filme synchronisieren, Hörbücher einsprechen, Rap-Musik produzieren, als Juroren in Schönheitswettbewerben fungieren – und noch viel mehr.

Die KIs lernen rasant dazu

Das ist einerseits faszinierend und eindrücklich. Aber es weckt auch Ängste. Selbst als Tech-Enthusiast muss man sich fragen, ob das nicht alles viel zu schnell geht: Noch vor einem Monat war von dem Tiktok-Schönheitsfilter die Rede, der die Haut verbessert, die Augen vergrössert, die Lippen voller macht und die Wangenknochen betont. Experten warnen, dass diese geschönten Bilder bei jungen Menschen die Wahrnehmung des eigenen Ichs gefährden könnten, weil die Wirklichkeit mit dem virtuellen Traumbild nicht mehr mithalten kann.

Doch noch bevor dazu eine breite Debatte entstehen konnte, nahmen die nächsten, atemberaubenden Ankündigungen die Aufmerksamkeit in Beschlag. Eine News betraf die Bilderzeugungssoftware Midjourney: Die erzeugt in der neuesten Version Bilder in einem Fotorealismus, dass sie kaum mehr als künstlich zu erkennen sind. Die Hände waren bislang oft verräterisch, weil sie zu viele Finger oder zu wenige hatten oder die an den falschen Stellen sassen. Dieses Manko ist fast weg, und wenn die Entwicklung in diesem Tempo weitergeht, wird sich in ein paar Jahren jedes beliebige Szenario per Knopfdruck in makelloser Perfektion als Bild oder Video erzeugen lassen. Entwertet das die Fotografie und die Kunst? Und wer könnte noch irgendeinem Fotobeweis glauben?

Wer versucht, sich all die möglichen Auswirkungen auszumalen, kommt zum Schluss, dass das unmöglich ist und wir uns blind in ein Abenteuer mit offenem Ausgang begeben. Die Tech-Turbos parieren derlei Bedenken mit heiterem Optimismus: Stellt euch mal nicht so an! Auch das Automobil, das elektrische Licht und das Fernsehen haben solche Ängste ausgelöst, sagen sie. Doch schnell waren sie alltäglich. Wir müssten uns auf die Chancen konzentrieren und Probleme dann adressieren, wenn sie sich auch konkret stellten. Doch so leicht lässt sich das Unbehagen nicht wegdiskutieren.

Wie tief die Verunsicherung geht, belegt der offene Brief, der von mehr als 50’000 Experten, Forscherinnen und Unternehmern unterschrieben worden ist, etwa von Apple-Mitbegründer Steve Wozniak, Elon Musk und Zac Kenton, der als Wissenschaftler beim inzwischen zu Google gehörenden Unternehmen Deepmind zur künstlichen Intelligenz forscht: «Fortgeschrittene künstliche Intelligenz könnte einen tiefgreifenden Wandel in der Geschichte des Lebens auf der Erde bedeuten und sollte mit angemessener Sorgfalt und Ressourcen geplant und gesteuert werden», schreiben die Unterzeichnenden. Sie verlangen ein Moratorium für die Weiterentwicklung der Systeme für mindestens sechs Monate.

Augen zu und durch?

Ob der Aufruf fruchtet, ist fraglich: Zu gross ist der Anreiz für die Unternehmen, sich in dieser neuen KI-Ära in eine vorteilhafte Ausgangsposition zu manövrieren. Microsoft will sich mit seinem in die Bing-Suchmaschine integrierten Chatbot von Google absetzen, und auch in den Office-Programmen Word, Excel und Powerpoint wird die KI bald omnipräsent sein. Immerhin sieht das Techportal The Verge eine Chance, dass das alte Silicon-Valley-Prinzip «Heute ausliefern und morgen reparieren» zunehmend Widerspruch erfährt. Auch die Gesetzgeber könnten die Unternehmen stärker in die Pflicht nehmen.

Doch wie verhalten wir Nutzerinnen und Nutzer uns mit dieser Büchse der Pandora, die sich nicht mehr schliessen lässt? Hände weg von dem Teufelszeug? Oder Augen zu und durch?

Wir Nutzerinnen und Nutzer sollten noch etwas tun: Wir müssen auf Transparenz bestehen. Auch die Betreiber müssen alles tun, um ihre KIs durchschaubar zu machen. Sie müssen uns sagen, mit welchen Daten die Systeme gefüttert wurden, und erklären, wie die Modelle arbeiten. Und bei jeder Antwort, die wir von einer KI erhalten, braucht es vollständige Quellenangaben: Dann können wir sie nicht nur überprüfen, sondern auch verstehen, wie sie zustande gekommen ist.

Mir hat es geholfen, diese neuen Werkzeuge spielerisch zu erkunden: Ein Chatbot, der im Brustton der Überzeugung einen völligen Unfug behauptet, wirkt nicht mehr bedrohlich und macht klar, dass es zur Superintelligenz, die uns alle in den Schatten stellt, noch ein weiter Weg ist. Solche Experimente machen auch klar, dass KIs helfen und unterstützen können, aber uns Menschen nicht überflüssig machen.

Doch aller Entzauberung zum Trotz dürfen wir unsere romantischen Vorstellungen pflegen – weil es hilft, das Gefühl der Bedrohung zu vertreiben und das Potenzial in die richtige Richtung zu lenken. Und so unvernünftig es auch sein mag, ist es fast unmöglich, diese seltsamen digitalen Entitäten nicht zu mögen – wenn wir ihre Fortschritte beobachten und sie wie etwas seltsame, überambitionierte Kindergartenkinder wirken, die neugierig ihre Umgebung erforschen, ihre Möglichkeiten überschätzen und keine Ahnung von den Grenzen haben. Ich rufe mir in Erinnerung, dass ich es mit einer Maschine zu tun habe, die ich nicht vermenschlichen soll. Aber dennoch scheint es mir, als ob diese KI eine Waise sei, für die wir als Menschheit nun die Vormundschaft übernehmen müssen.

Dieser Fotorealismus lässt sich kaum mehr als künstlich erkennen – und trotzdem ist er nicht ganz fehlerfrei: Hände, welche die neuste Version der KI-Software Midjourney kreiert hat.

Wie tief die Verunsicherung geht, belegt der offene Brief von 50’000 Fachleuten.

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 5. April 2023

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