Analyse zum Jugendschutzgesetz

Youtube nur nach Alterskontrolle? Das schiesst übers Ziel hinaus

Nutzerinnen und Nutzer müssen künftig für viele Internetdienste einen Altersnachweis erbringen, der viele persönliche Informationen offenlegt. Es gäbe bessere Möglichkeiten.

Matthias Schüssler

Amtliche Daten aus der Schweiz werden mit dem neuen Gesetz US-Konzernen – und mit Tiktok auch einem chinesischen  – frei Haus geliefert: Jugendlicher mit Smartphone. 

Es sei das «internetfeindlichste Gesetz Europas», schreibt die Techjournalistin Adrienne Fichter. Sie hat letzte Woche das neue Schweizer Gesetz zum Jugendschutz bei Filmen und Videospielen einer kritischen Untersuchung unterzogen. Das Parlament hat die neuen Regeln am 30. September 2022 beschlossen und diverse Organisationen, darunter der Chaos Computer Club Schweiz und die Piratenpartei, haben ein Referendum ergriffen, für das die Frist am 19. Januar 2023 abläuft. 

Fichter hält fest, dass zwar Handlungsbedarf besteht, weil Jugendliche immer wieder mit pornografischen und gewalttätigen Inhalten konfrontiert werden. Doch sie stuft die vorgeschlagenen Massnahmen als gänzlich unverhältnismässig ein und wundert sich, dass nur die Parlamentarier der SVP dagegengestimmt hätten – dabei hätten Politikerinnen und Politiker jeglicher Couleur merken müssen, welche Gefahr für den Datenschutz hier entstehen könnte.

Noch steht nicht fest, wie der Jugendschutz technisch umgesetzt wird. Die Details sollen später in Absprache mit den Anbietern festgelegt werden.

Ein erstes Problem mit dem neuen Gesetz besteht darin, dass eine Alterskontrolle nicht erst dann stattfinden könnte, wenn eine Nutzerin oder ein Nutzer auf Videos oder Spiele mit einer eingeschränkten Altersfreigabe zugreift, sondern generell: Wenn jede Person vor der Nutzung eines sogenannten Abrufdienstes also einen Altersnachweis erbringen soll – egal, was sie sehen will. Die Abrufdienste umfassen Streamingplattformen wie Netflix, Youtube oder Tiktok, aber auch soziale Medien mit Videoinhalten – also einen Grossteil der Angebote im Netz, die wir tagtäglich konsumieren.

Das Gesetz wurde beschlossen, ohne dem Datenschutz ausreichend Rechnung zu tragen.

Das zweite mögliche Problem besteht in der Art und Weise, wie die Alterskontrolle durchgeführt wird. In der Botschaft zum Gesetz ist mehrfach von Ausweiskontrollen die Rede, was vermuten lässt, dass dem Gesetzgeber eine Altersprüfung vorschwebt, wie sie in der Offlinewelt zum Beispiel beim Verkauf von Games auf Datenträgern üblich ist – aber die sich nicht eins zu eins in die digitale Welt übertragen lässt.

Denn wer seinen Ausweis in digitaler Form bei Youtube, Tiktok oder Netflix vorweist, der müsste ein Foto einer ID oder des Passes hochladen, der neben dem Jahrgang auch die Nationalität, Geburtsdatum, Geschlecht, Körpergrösse, Heimatort und ein offizielles Foto enthält. Eine anonyme oder pseudonyme Nutzung der Dienste wäre nicht mehr möglich. Das seien amtliche Daten aus der Schweiz, die den US-amerikanischen (und mit Tiktok auch einem chinesischen) Konzern «frei Haus» geliefert würden, schreibt der auf das Recht im digitalen Raum spezialisierte Anwalt Martin Steiger in einem Blogpost. Steiger weist auch darauf hin, dass das neue Datenschutzrecht, das eigentlich mehr Sicherheit für die Anwender bringen sollte, damit ausgehöhlt wird.

Dass dieses Gesetz beschlossen wurde, ohne die Datenschutzanliegen bei der Alterskontrolle ausreichend Rechnung zu tragen, ist ein parlamentarischer Unfall erster Güte. Digitalexpertin Adrienne Fichter vermutet, die Parlamentarier seien von der Flut der Vorlagen überfordert, merkt aber auch an, dass auch die Medien die Kritikpunkte bislang nicht breit thematisiert haben.

Wie konnte das passieren? David Caspar von der Operation Libero hält in einer Stellungnahme fest, das Gesetz mache den Eindruck, als wäre es unter der Annahme entstanden, in der Schweiz existiere bereits eine E-ID.

Das E-ID-Gesetz wurde abgelehnt, weil die Mehrheit der Bevölkerung nicht wollte, dass Private persönliche Daten verwalten. Mit dem neuen Jugendschutzgesetz würden die Tech-Konzerne übergeben.

In der Tat: Eine E-ID, also ein elektronischer Identitätsnachweis, könnte eine Lösung für das Dilemma bieten und in der richtigen Ausgestaltung sowohl dem Jugend- als auch dem Datenschutz Rechnung tragen. Eine E-ID, die die Privatsphäre maximal schützt, würde einem Dienst wie Netflix oder Tiktok verbindlich bestätigen, dass eine Person über 18 ist. Sie würde aber keinerlei weitere Angaben zu Name, Geschlecht oder Heimatort machen und auch das effektive Alter nicht preisgeben.

Doch die Schweizer E-ID existiert noch nicht. Am 7. März 2021 wurde sie vom Volk abgelehnt.

Bei dieser Abstimmung wollte eine Mehrheit nicht, dass private Unternehmen die persönlichen Daten der Bevölkerung verwalten. Dieses Nein damals war ein klarer Auftrag, dem Schutz der Privatsphäre Rechnung zu tragen. Statt in einer Hauruckübung althergebrachte Lösungen aus der analogen Welt dem Internet überzustülpen, muss auch der Jugendschutz digital neu gedacht werden – selbst wenn es etwas länger dauert.

Quelle: Newsnetz, Dienstag, 10. Januar 2023

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