Deutliches Resultat bei Elon Musks Pseudo-Abstimmung

Einschätzung Der Twitter-Chef lässt die Nutzer votieren, ob er abtreten soll: Das wirkt souverän, ist aber nichts weiter als ein scheindemokratisches Besänftigungsmanöver.

Matthias Schüssler

«Soll ich als Chef von Twitter zurücktreten? Ich werde mich an die Ergebnisse dieser Umfrage halten.» Elon Musk überliess den Nutzerinnen und Nutzern seines sozialen Netzwerks die Entscheidung, ob er bleiben oder den Platz räumen soll. Die Umfrage lief bis gestern Mittag um 12.20 Uhr. Bei über 17 Millionen Stimmen wurde mit 57,5 Prozent der Rücktritt gefordert.

Was auf den ersten Blick nach einer soliden, basisdemokratischen Entscheidung ausschaut, ist nichts weiter als eine neue, publikumswirksame Finte, von denen es im Lauf von Musks Twitter-Regentschaft schon diverse gab. Denn der Ausgang der Umfrage ist nicht von grosser Bedeutung: Im November hat Musk angekündigt, er wolle mittelfristig einen Geschäftsführer für das Social-Media-Unternehmen finden. Er hat das im Zeugenstand bei einer Gerichtsanhörung getan, bei der er sich in einer Aktionärsklage um ein Abfindungspaket bei Tesla verteidigt hat.

Mit Umfragen Nutzernähe demonstriert

Der Ausgang der Abstimmung wird die Berufung eines neuen Twitter-Chefs nun allenfalls beschleunigen – mehr nicht. Gleichzeitig erlaubt sie es Musk, sich erneut als Unternehmensführer zu inszenieren, der auf die Nutzerschaft hört.

Solche «Polls» hat Musk bereits mehrfach durchgeführt: Er hat die Öffentlichkeit darüber abstimmen lassen, ob der gesperrte Ex-Präsident Donald Trump bei Twitter wieder zugelassen werden solle. Und letzte Woche hat eine Umfrage stattgefunden, «wie lange die Sperrung der Konten anhalten soll, die meinen genauen Standort in Echtzeit verraten haben».

Die Sperrung betraf diverse bekannte Journalisten, denen Musk vorwarf, ihn der Gefahr eines Attentats preisgegeben zu haben, weil sie seinen Aufenthaltsort veröffentlicht hätten. Die betreffenden Journalisten hatten zuvor über die Sperrung des Twitter-Accounts «Elonjet» berichtet. Dieser wiederum hatte anhand von öffentlichen Daten die Position von Musks Privatflugzeug auf Twitter zugänglich gemacht.

Die Sperre der Journalisten hatte Musk einerseits breite Kritik eingetragen, weil sie in eklatantem Widerspruch zu seinem Kampf für die freie Rede steht. Andererseits sprach Vera Jourová, die Vizepräsidentin für Werte und Transparenz der EU-Kommission, eine unmissverständliche Warnung im Namen der EU aus. Das Gesetz über digitale Dienste verlange eine «Achtung der Medienfreiheit und der Grundrechte», schrieb Jourová via Twitter.

Die entscheidende Frage wurde nicht gestellt

Bei der Umfrage hatten sich knapp 59 Prozent dafür ausgesprochen, die Accounts sofort wieder freizugeben, was mit einer gewissen Verzögerung auch passiert ist – aber die viel interessantere Frage hat Musk nicht gestellt: Nämlich, ob es in Ordnung ist, solche Sperren aus einer persönlichen Betroffenheit heraus zu erlassen.

Elon Musk demonstriert das manipulative Potenzial, das in solchen Umfragen steckt – und wie gut sie sich als Ablenkungsmanöver eignen. Denn sein CEO-Referendum hat einen anderen Krisenherd in den Hintergrund gedrängt. Twitter hat begonnen, Links zu anderen Social-Media-Plattformen mit einer Warnung zu versehen oder ganz zu unterbinden.

Das war der offensichtliche Versuch, zu verhindern, dass Nutzer, die Twitter den Rücken kehren wollten, auf ihre Konten bei Facebook, Instagram und Mastodon aufmerksam machen konnten. Twitter hat vorübergehend auch das Konto des Konkurrenten Mastodon gesperrt, weil dessen «hauptsächlicher Zweck die Bewerbung von Konkurrenten» sei.

Es bleibt abzuwarten, ob Musk die Nutzerschaft auch darüber abstimmen lassen wird, wer sein Nachfolger als Twitter-Chef werden soll – und ob das eine Führungspersönlichkeit oder bloss eine Marionette sein wird.

Abstimmungen hat er bereits mehrfach durchgeführt: Twitter-Chef Elon Musk. Foto: Getty Images

Der Ausgang der Umfrage wird die Berufung einer Nachfolge allenfalls beschleunigen – mehr nicht.

Quelle: Tages-Anzeiger, Dienstag, 20. Dezember 2022

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