Musk erzählt nur die halbe Wahrheit

Analyse Der Twitter-Chef sieht sich durch interne Dokumente in seinem Kampf für Meinungsäusserung bestärkt. Gleichzeitig zeigen Bürgerrechtsorganisationen, wie stark die Hetze unter der neuen Führung zugenommen hat.

Matthias Schüssler

Wenn interne Dokumente an die Öffentlichkeit gelangen, ist das für das betroffene Unternehmen in aller Regel ein Desaster. Oft bedroht ein solcher Vorfall den Ruf und die Geschäftsaussichten.

Bei Twitter ist die Sache anders: Als am Wochenende der Journalist Matt Taibbi interne Dokumente des Kurznachrichtendienstes veröffentlichte, konnte er auf eine Vorankündigung des Chefs persönlich zählen: «Das wird der Wahnsinn», hat Musk getwittert.

Die Dokumente, die unter dem Hashtag #Twitterfiles öffentlich wurden, zeigen auf, dass es bei Twitter bis 2020 offenbar Routine war, bestimmte Tweets zu löschen. Taibbi schreibt, Tweets von Prominenten oder Unbekannten seien «auf Geheiss einer politischen Partei entfernt oder überprüft» worden. Musk stellt diese Aufklärung in den Kontext der Affäre um Hunter Bidens Laptop, bei der Twitter einen Artikel des Boulevardblattes «New York Post» blockiert hat.

Doch Twitter hat diesen Fall schon vor Musks Amtsantritt aufgearbeitet, inklusive öffentlicher Entschuldigung des ehemaligen Twitter-Chefs Jack Dorsey.

Taibbi selbst verdeutlicht, dass nicht nur die Demokraten, sondern auch die Republikaner einen exklusiven Zugang zu Twitter hatten, sagt aber klar, die Dokumente würden eine politische Schräglage aufzeigen: Da bei Twitter mehr Leute mit linker Gesinnung gearbeitet hätten, seien den Demokraten mehr Kanäle zur Intervention offengestanden.

Mit dieser politischen Stossrichtung liess die Kritik an den Twitterfiles nicht lange warten: War diese Enthüllung inszeniert? Mehdi Hasan, Moderator beim Fernsehsender MSNBC, ging mit Taibbi hart ins Gericht. In einem Tweet warf er ihm vor, er würde «PR-Arbeit für den reichsten Mann der Welt» machen, sich in den Dienst zynischer rechter Narrative stellen und so tun, als ob er die Mächtigen mit der Wahrheit konfrontieren würde.

Trotzdem: Musks Wille zur Aufklärung wäre löblich, würde er nicht selbst auf eklatante Weise zur Eskalation beitragen. Musk duldet, dass via Twitter-Files ehemalige Twitter-Mitarbeiter mit Namen und Adressen an den Pranger gestellt werden.

Gleichzeitig kümmert sich Musk nicht um die Kollateralschäden seines Kampfs für die absolute Meinungsfreiheit. Sie hat zur Rückkehr vieler zuvor gesperrter Nutzer geführt.

Einer von den Wiederzugelassenen ist Neonazi Andrew Anglin, der Gründer der News-Website «The Daily Stormer», die ihre Verbundenheit mit dem Dritten Reich schon im Namen kundtut: «Der Stürmer» war ein antisemitisches Propagandaorgan der NSDAP. Anglin hat seine Wiederkehr gleich genutzt, um sich für Kanye West in die Bresche zu werfen. Der Rapper war zuvor gesperrt worden, weil er das Bild eines Davidsterns mit einem überlagerten Hakenkreuz veröffentlicht hatte. Zu dieser Sperre hatte sich Musk persönlich geäussert: «Ich habe mein Bestes gegeben. Trotzdem hat er erneut gegen unsere Regel gegen die Anstiftung zur Gewalt verstossen.»

Das alles wirkt inkonsistent und orientierungslos. Und um die Sache noch schlimmer zu machen, hat Twitter die Konten antifaschistischer Aktivisten verbannt. Ein prominentes Beispiel ist Chad Loder, der sich nach dem Aufstand im US-Capitol an der Identifizierung von Gewalttätern beteiligt hat. Gemäss Recherchen des investigativen Onlineportals «The Intercept» war das die Folge einer koordinierten Kampagne von rechten Agitatoren: «Linke Stimmen werden auf Twitter zum Schweigen gebracht, während rechtsextreme Trolle Elon Musk Ratschläge erteilen», fasst «The Intercept» die Ereignisse zusammen.

Die Auswirkungen von Musks «Kampf für die Meinungsfreiheit» sind messbar: Die Zunahme des Hasses auf Twitter sei beispiellos, urteilt die «New York Times». Die Zeitung bezieht sich auf die Daten mehrerer Forscher und Bürgerrechtsgruppen, etwa der Anti-Defamation League, einer Menschenrechtsorganisation. Nach diesen Zahlen sind die Beleidigungen gegen Afroamerikaner von 1282 Fällen pro Tag auf 3876 Fälle angestiegen. Die Verunglimpfungen von schwulen Männern gingen von 2506 auf 3964 Ereignisse pro Tag hoch, und bei den antisemitischen Äusserungen wurde ein Plus von 61 festgestellt.

«Elon Musk hat allen Rassisten, Frauenhassern und Homophobikern signalisiert, dass Twitter für sie da ist – und sie haben verstanden», zitiert das Online-Newsportal «The Verge» den Leiter der Nonprofit-Organisation Center for Countering Digital Hate, Imran Ahmed. Musk hat in einem Antwort-Tweet die in der «New York Times» genannten Zahlen als «komplett falsch» bezeichnet, aber keine eigenen Zahlen beigesteuert.

Diese Vorkommnisse lassen sich so deuten, dass Musk weniger daran gelegen ist, die Fehler der Vergangenheit aufzuarbeiten, sondern dass sein Ziel darin besteht, Twitter nach seinen persönlichen politischen Vorstellungen umzubauen.

Nach gut einem Monat als Twitter-Chef liegen die Fakten auf dem Tisch: Kanye West hat Musk gelehrt, dass es ohne Blockierungen nicht geht. Die Gefahr, von politischen Extremisten instrumentalisiert zu werden, ist real, und auch ein Verfechter der freien Rede muss bereit sein, rote Linien zu ziehen. Jetzt wäre die Gelegenheit, auszuhandeln, wo diese roten Linien verlaufen sollen.

Dabei sollte Musk seine arrogante Haltung überdenken, alles besser machen zu wollen. Denn die Twitterfiles belegen auch, dass das Unternehmen schon vor Musk darum gerungen hat, welche Äusserungen zulässig sein sollen und welche nicht. Falls Musk aber tatsächlich seine politische Agenda über diese Herausforderung stellt, muss jeder Nutzer, jede Nutzerin und jeder Werbetreibende entscheiden, ob Twitter für ihn noch eine Zukunft hat.

Elon Musk über die Veröffentlichung der Twitterfiles: «Das wird der Wahnsinn.» Foto: Carina Johansen (AFP) AFP / Agence France Presse

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 7. Dezember 2022

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