Social Media

Einleuchtende und fragwürdige Neuerungen bei Twitter

Der «Edit»-Knopf ist eine längst überfällige und willkommene Innovation. Doch andere Neuerungen provozieren Stirnrunzeln und werfen die Frage auf, ob Twitter seine Werte verrät.

Matthias Schüssler

Twitter will den unterschiedlichen Bedürfnissen seiner Nutzer Rechnung tragen. Doch nicht alle Features, die in letzter Zeit eingeführt wurden, erfüllen diesen Zweck.

Twitter gibt sich derzeit redlich Mühe, als innovativ in Erscheinung zu treten. In den letzten Tagen und Wochen wurden einige Neuerungen eingeführt, mit denen das Unternehmen zwei Ziele verfolgt: Erstens sollen die Nutzerinnen und Nutzer ihre Kommunikation gezielter steuern können, was im Idealfall dazu dient, den Hass und die Shitstorms einzudämmen.

Zweitens scheint das Unternehmen beweisen zu wollen, dass es für die Zukunft gerüstet ist, selbst wenn die Übernahme durch Elon Musk platzen sollte. Die hängt weiterhin in der Schwebe, nachdem der Tesla-Chef einen Rückzieher gemacht und das Social-Media-Unternehmen eine Klage gegen ihn eingereicht hat.

Umstritten: Der Bearbeiten-Knopf

Die Nutzerschaft fordert schon seit Jahren eine Bearbeitungsmöglichkeit für Tweets. Bislang gibt es keine Möglichkeit, Tippfehler zu korrigieren. Stattdessen muss man den Tweet löschen und korrigiert neu absetzen – was aber niemand tun möchte, wenn der Tweet bereits Aufmerksamkeit erregt haben sollte.

Elon Musk hat im April lautstark einen «Bearbeiten»-Knopf gefordert. Anfang September hat ihn Twitter angekündigt: Während einer halben Stunde nach der Veröffentlichung wird ein Tweet korrigierbar sein, wobei die Änderungen transparent ausgewiesen werden. Auf diese Weise wird nachvollziehbar bleiben, wenn eine Bearbeitung zu manipulativen Zwecken erfolgen sollte. Denn es besteht die reale Möglichkeit, dass jemand einen harmlosen Tweet verfasst, damit eine virale Wirkung erzielt und ihn hinterher radikal umschreibt.

Es gibt auch Leute, die den neuen Knopf für überflüssig halten: «Es ist zwar frustrierend, wenn Sie einen Fehler entdecken, nachdem Tausende von Konten Ihren Witz geteilt haben.» Aber es sei auch charmant, ein Aufruf zur Bescheidenheit und ein Ausdruck einer «chaotischen Plattform, die ständig in Bewegung ist», meint ein Autor des Magazins «Slate».

Die Bearbeiten-Funktion soll vorerst Leuten vorbehalten sein, die ein Twitter-Blue-Abo für fünf US-Dollar im Monat abgeschlossen haben. Ob sie später allen Nutzern zur Verfügung stehen wird, ist bislang offen.

Erklärungsbedürftig: Die Circles

Im August hat Twitter die «Circle»-Funktion eingeführt. Sie soll gemäss einem Blogpost eine «intimere Konversation» ermöglichen. Der Absender kann seinen Tweet wie bisher an alle schicken, oder aber an eine Gruppe handverlesener Empfänger. Diese Gruppe kann maximal 150 Leute umfassen, und sie erlaubt es, persönlichere Botschaften zu vermitteln. Twitter erklärt das im Blog wie folgt: «LGBTQ+-Jugendliche richten sich oft ein separates privates Konto ein, weil sie sich wohler fühlen, Dinge mit Menschen zu teilen, die ihre sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität akzeptieren.»

Tweets können über die Circle-Funktion an eine handverlesene Empfängerschar gesendet werden. Sie werden durch ein grünes Symbol markiert.

Das heisst umgekehrt, dass die Circles den Zweck haben, Personen auszuschliessen, die für gehässige Reaktionen bekannt sind. Twitter will mit dieser Neuerung den notorisch rauen Umgangston auf der Plattform entschärfen. So einleuchtend die Idee – eine geschlossene Gruppe in einem Messenger ist einfacher zu benützen und bietet gefühlt ein sichereres Umfeld für einen persönlichen Austausch.

Schwer zu finden: Die Communitys

Auch die Communitys haben das Ziel, die Nutzer dazu zu bringen, Twitter mehr für Konstruktives und weniger für Schlammschlachten zu nutzen: In kleineren Gruppen soll über gemeinsame Interessen diskutiert werden. Eine solche Gemeinschaft kann öffentlich sein oder mit einer Zugangsbeschränkung ausgestattet werden.

Mit dieser Neuheit reagiert Twitter auf die Beliebtheit von Telegram- und Facebook-Gruppen. Doch wie man von denen weiss, können die nicht nur für fröhliche Plaudereien über Hobbys und persönliche Vergnügen genutzt werden, sondern auch für Hass, Hetze und zur Verbreitung von Fake News.

Bislang krankt die Neuerung daran, dass Communitys schwer aufzufinden sind. Die neue Funktion soll aber in den mobilen Apps prominenter in Erscheinung treten, und es werde demnächst möglich sein, Communitys über die Suche aufzufinden, verspricht Twitter.

Elitär: Die «Wer kann antworten?»-Funktion

Schon ein Jahr alt ist die Twitter-Funktion «Wer kann antworten?». Sie erlaubt es einem Nutzer, die Reaktionsmöglichkeiten zu beschränken. Er kann angeben, dass nur Nutzer, denen er selbst folgt, antworten dürfen – oder aber solche, die er namentlich erwähnt hat. Damit nimmt er die Rolle eines Lehrers oder Gesprächsleiters ein, der Leute aufruft, die ein Statement abgeben dürfen.

Diese Einschränkung ist vor allem für Twitter-Nutzer mit grosser Followerzahl interessant, indem sie die Reaktionen mengenmässig eindämmen können. Allerdings stellt diese Funktion eine für Twitter essenzielle Eigenschaft infrage: Nämlich der Umstand, dass sich die Nutzer grundsätzlich auf Augenhöhe begegnen, egal, ob sie nun eine Million Follower oder nur eine Handvoll haben.

Einem Teil der Nutzerschaft präventiv die Mitsprache zu verweigern, verlagert das Gewicht von einem sozialen Medium zum Massenmedium. Besonders störend ist, dass sich die Antwortmöglichkeit auf einen Tweet auch nachträglich ändern lässt – damit lässt sich eine Diskussion im Keim ersticken, ohne dass man sich die Mühe machen müsste, Störenfriede direkt anzugehen, indem sie stumm geschaltet oder blockiert werden.

Quelle: Newsnetz, Mittwoch, 7. September 2022

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