Was beim Streaming verloren geht

Plattformen verdrängen Tonträger So schön es ist, Millionen von Songs abrufbereit zu haben – den Reiz analoger Musikträger können Streamingdienste nicht ersetzen. Eine nostalgische Liste von Dingen, die wir vermissen.

Matthias Schüssler

1 Den Nachmittag im Plattenladen verbringen

Es gibt sie vereinzelt heute noch, aber es ist nicht mehr dasselbe: In der Ära vor den Streamingdiensten verbrachten wir ganze Nachmittage dort.

Plattenläden hatten genau dann eine magische Anziehungskraft, wenn es Hausaufgaben zu erledigen gab. Wir streiften durch die Gänge, blätterten durch die Auslage, um nach einem schwierigen Auswahlverfahren mit einem Stapel an Platten oder CDs zur Hörstation zu schreiten.

Die eigentliche Herausforderung stellte sich beim Durchhören der potenziellen Kaufobjekte: Wie sollte man sich zwischen Peter Gabriel, Paul Simon, Eurythmics und Prince entscheiden? Im legendären Musicbox-Laden in einem Keller der Winterthurer Altstadt konnte man jederzeit den Verkäufer zurate ziehen, der immer fachlich einwandfreie Beratung bot. Allerdings wusste er die emotionalen Bedürfnisse eines 15-Jährigen nicht immer in der vollen Tragweite abzuschätzen.

2 Plattenhüllen und Booklets

Digitale Songs sind bei den Streamingdiensten mit einem Bild ausgestattet, das mit seinem quadratischen Format zwar an die Plattenhülle erinnert, aber so klein ist, dass man selten viel darauf erkennt. Wie enttäuschend, wenn man ein grossartiges Albumcover wie das von «Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band» von den Beatles, «Nevermind» von Nirvana, «Ready to Die» von The Notorious B.I.G. oder «New Skin for the Old Ceremony» von Leonard Cohen auf so ein Pixelhäufchen geschrumpft sieht, statt es als Kunstwerk mit knapp 32 Zentimetern Kantenlänge vor Augen zu haben.

Der Niedergang hat schon mit der Musik-CD begonnen – und die Musikkassette wollen wir auch grosszügig übergehen, weil bei der die quadratischen Kunstwerke meist mit minimalem Aufwand auf ein Hochformat zurechtgestutzt worden sind. Das «Artwork», die grafische Gestaltung, umfasste nicht nur die Hülle, sondern auch eine Hinterseite mit oft umfangreichen Informationen, und bei der CD kam man in Genuss eines Booklets mit Songtexten und Begleitinformationen.

3 Sonderausstattungen und Special Editions

Zu Zeiten der Tonträger haben sich die Musikfirmen einiges einfallen lassen, um den Fans mehr als den üblichen Betrag für eine Platte, CD oder Kassette aus der Tasche zu ziehen. Es gab aufwendige Sonderausstattungen. Die Metallbox von Fredericks Goldman Jones’ Live-CD «Sur scène» gehört bei mir zu den wenigen Exemplaren, die die Überspielung auf den Computer und die anschliessende Beseitigung der physischen Medien überlebt haben.

Eine wertige Hülle oder ein beigelegtes Poster war nicht das Ende der Fahnenstange: Auch die Platten waren ein Tummelfeld für kreative Produkte: Vinyl in allen denkbaren Farben oder mit eingearbeitetem Fotomotiv als «Picture Disc». Björk hat eine Sammlerausgabe ihres achten Studioalbums «Biophilia» mit zehn verchromten Stimmgabeln ausgestattet, bei der jede Gabel den Grundton eines der zehn Stücke erklingen lässt.

Die schwedische Band The Shout Out Louds hatte ihre Single «Blue Ice» als Bausatz veröffentlicht, bestehend aus einer Flasche mit destilliertem Wasser und einer Gefrierschale aus Silikon mit der Matrize der Platte: Nach sechs Stunden im Tiefkühler entsteht so ein Tonträger aus Eis, der höchstens zwei, drei Wiedergaben übersteht.

4 Hidden Tracks

Sowohl bei der CD als auch bei den Schallplatten gibt es Möglichkeiten, Lieder zu verstecken. Das Ziel ist, die Fans zu überraschen. Es existieren diverse Methoden für solche «Hidden Tracks». Die simpelste ist, einen Song nach einer langen Pause am Ende anzuhängen, wie das Nirvana bei «Nevermind» gemacht haben. Bei der CD lassen sich Songs auch als Datenspur oder im «Pregap» verstecken – den findet man nur, wenn man beim Titel 1 die Taste «Vorheriger Titel» drückt.

Besonders raffiniert war die Idee, die sich die britische Komikergruppe Monty Python 1973 für ihr Album «Matching Tie and Handkerchief» hat einfallen lassen. Das hatte auf der zweiten Seite zwei konzentrische Rillen. Je nachdem, welche Rille der Hörer mit der Nadel getroffen hat, gab es ein komplett anderes Programm zu hören.

5 Bootlegs

Nebst den Platten, die die Musiker und Bands offiziell herausgeben, gibt es auch die Bootlegs: Die kennt man hierzulande hauptsächlich aus illegalen Konzertmitschnitten, die auf Platte oder Kassette veröffentlicht worden sind. Das als Urheberrechtsverletzung abzutun, wird der Sache nicht gerecht: Künstler wie Bruce Springsteen waren davon zwar nicht begeistert, akzeptierten aber, dass sie ein legitimes Bedürfnis der Fans befriedigt haben. Die Grateful Dead haben aus dem gleichen Grund während ihrer ganzen Karriere solche Mitschnitte geduldet. Frank Zappa hat die Bootlegger mit ihren eigenen Waffen geschlagen, indem er selbst die «Beat the Boots»-Boxsets in Umlauf brachte. Die enthielten acht LPs, die wiederum Kopien von kursierenden Bootlegs waren.

Als Teil der Fankultur trieb das Bootleg-Wesen über Jahrzehnte originelle Blüten: Ein Bootleg namens «The Dark Side of the Moo» war eine Zusammenstellung früher Songs von Pink Floyd und hatte ein geflecktes Kalb auf dem Cover, was eine doppelbödige Anspielung an gleich zwei Alben der englischen Rockband war («Atom Heart Mother» mit der Kuh auf dem Cover und «The Dark Side of the Moon»). Eine Platte mit dem Titel «Elvis’ Greatest Shit» erwies 1982 dem King of Rock and Roll die Ehre, indem sie 23 seiner schlechtesten Aufnahmen versammelte.

Auf Spotify kann jeder seine Wiedergabeliste veröffentlichen, sodass solche Fan-Compilations überflüssig werden. Illegale Konzertmitschnitte konsumiert man heute via Youtube. Den Reiz des Verbotenen haben sie längst verloren, weil sie inzwischen zu einem Marketing-Instrument geworden sind.

6 Langlebige, exotische und extravagante Abspielgeräte

Wer sich heute daran erfreut, dass das Smartphone und die Bluetooth-Box in jeder Lebenslage Töne von sich geben, der würde sich vielleicht wundern, was für Blüten der Erfindungsreichtum der Hersteller rund um die Schallplatte und Kassette getrieben hat: Der legendäre B790-Plattenspieler des Schweizer Audiopioniers Studer Revox zum Beispiel: Er wurde ab 1977 gebaut und hatte einen Tangentialarm, der auch im Zentrum der Platte die Rille genau parallel abgetastet hat. Wie der Autor aus zuverlässiger Quelle weiss, sind solche Modelle oder auch Nachfolger wie der B791 heute noch in Betrieb.

Philips hat in den 1960ern den Auto-Mignon auf den Markt gebracht: einen Plattenspieler, der im Fahrzeug unters Armaturenbrett geschraubt worden ist und Singles abspielen konnte. Wie es der Beifahrer geschafft hat, alle drei Minuten die Platte zu wechseln und gleichzeitig die Landkarte zu lesen, ist leider nicht überliefert. Ein riesiges Tummelfeld eröffnet sich auch bei den alternativen Tonträgersystemen: das von 1960 bis 1970 verbreitete Achtspur-Tonband, bei dem das Band nur auf eine Spule gewickelt war und endlos abgespielt werden konnte. Da es vier parallele Stereospuren oder acht Monospuren gab, konnte man über einen Taster die Musik wechseln, ohne die Kassette tauschen zu müssen.

Das Feld der analogen Audio-Gadgets ist uferlos: Ob Schallplattensysteme zum Selbstaufnehmen (Gray Audograph und Soundscriber), der Magnabelt von Philips, der Aufnahmen auf einer Art breitem Pneu speicherte, der sich leicht per Post verschicken liess, bis hin zur Plattenhülle, die ihrerseits abspielbar war: Es gab unzählige Systeme, die sich nie durchgesetzt haben oder nach kurzer Blüte wieder verschwunden sind.

7 Staub, Kratzer und Bandsalat

Die Streamingdienste senden in digitaler Qualität, manche davon sogar in hochauflösendem Audio. Das heisst: Kein Knistern, kein Kratzen oder Rauschen trübt den Musikgenuss. Das erfreut die Perfektionistin und den Hi-Fi-Freak, aber gleichzeitig raubt es der Musik die persönliche Note. Denn mit seinen Lieblingsschallplatten teilt man eine Geschichte. Je öfter man sie hört, desto mehr hört man es ihnen an, und markante Kratzer fehlen regelrecht, wenn man sich eine «saubere» Version der Aufnahme zu Gemüte führt. Das gilt auch für Kassetten, die eiern oder Lücken aufweisen, nachdem man eine zerknitterte Stelle herausgeschnitten und die Enden mit Tesafilm zusammengeklebt hat.

In Plattenläden konnte und kann man Stunden und Tage verbringen. Foto: Peter Klaunzer (Keystone)

Eine Automobilistin von Welt hörte auch im Auto Musik ab Schallplatte (1959). Foto: AP, Keystone

Hinweis an die Generation Spotify: Nein, Bandsalat ist kein kulinarisches Gericht. Foto: Alamy

Quelle: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 27. Juli 2022

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