Schüssler

Wie ein virales Internetphänomen entsteht

Facebook, Google und Amazon dominieren das Web. Doch es gibt sie noch – die Internetphänomene, die aus dem Nichts kommen und riesige Wellen schlagen. «Wordle» ist so ein Fall: Das ist ein Rätsel, bei dem es ein Wort aus fünf Buchstaben zu erraten gilt. Nachdem Sie Ihren Tipp abgegeben haben, werden im Lösungswort vorhandene Buchstaben gelb markiert. Wenn ein Buchstabe auch an der korrekten Position steht, wird er grün unterlegt. Um den Begriff herauszufinden, haben Sie sechs Versuche.

Josh Wardle hat «Wordle» erfunden. Er hat es Anfang 2021 veröffentlicht, und nach einem Jahr kam der Erfolg. Wardle hat eine simple Methode eingebaut, mit der sich die Resultate über die sozialen Medien teilen lassen. Auf diese Weise ging «Wordle» viral: Allein in den ersten beiden Januarwochen 2022 wurden auf Twitter 1,2 Millionen Resultate geteilt, und die Nutzerzahl stieg auf zwei Millionen Spieler täglich. Und obwohl «Wordle» völlig kostenlos ist, ging Josh Wardle nicht leer aus: Im Februar kaufte die «New York Times» seine Kreation für eine «niedrige siebenstellige Summe».

«Wordle» hat, was es für ein Internetphänomen braucht: eine simple und packende Spielidee und die sozialen Medien als Multiplikator. Doch es kommt ein dritter Faktor dazu: Wardle hat keinerlei Schutzmechanismen eingebaut, der ganze Code steckt in einer Website. Das öffnet Nachahmern Tür und Tor: Jeder, der mag, kann für sich oder für Freunde eine eigene Variante anfertigen.

Genau das ist passiert. Es gibt inzwischen unzählige Sprachvarianten. Das ursprünglich englische Worträtsel existiert auch auf Deutsch, Französisch, Italienisch und Spanisch. Oder in fast jeder anderen Sprache – wie Google beweist. «Wordle» wurde aber nicht nur für andere Sprachen adaptiert. In den letzten Monaten sind Dutzende Abwandlungen für spezielle Vorlieben entstanden: Auf «Dordle» muss man zwei Wörter parallel erraten, was aber erst der Anfang ist. Es gibt auch «Quordle» mit vier, «Octordle» mit acht und «Sedecordle» mit 16 Wörtern aufs Mal: nichts für schwache Nerven. Bei «Lordle of the Rings» stellen Sie Ihre Kenntnisse über Mittelerde unter Beweis. «Star Wars»-Fans messen sich bei «Star Wordle». Unter «Queerdle» sind Begriffe aus der LGBTQ-Community gefordert und bei «Jewdle» Wörter in Hebräisch und Jiddisch.

Für rote Köpfe sorgt «Lewdle». Hier werden Gossenwörter von milde anstössig bis grob vulgär abgefragt. Auch das ein riesiger Erfolg. «Eine Million Spieler in neun Tagen», twitterte sein Erfinder: «Ich bin von jedem Einzelnen von euch enttäuscht.» Wer Zahlen vorzieht, der vergnügt sich bei «Primel» mit dem Erraten von Primzahlen und mit «Nerdle» im Kopfrechnen. Dort werden mathematische Terme erraten, die aus Zahlen und Operatoren bestehen – und natürlich das richtige Resultat ergeben.

Sollten Sie an dieser Stelle zum Schluss kommen, dass noch nicht allen Bedürfnissen Genüge getan ist, dann sind Sie eingeladen, eine eigene Version zu kreieren. Das ist einfach möglich und erfordert nicht einmal Programmierkenntnisse: Sichern Sie die «Wordle»-Website im Browser, indem Sie die Tastenkombination «Ctrl» + «s» betätigen. In der Kopie auf Ihrer Festplatte finden Sie in einem Unterordner die Datei «main.js». Sie enthält nicht nur den Programmcode, sondern auch alle Lösungswörter. Diese Datei öffnen Sie in einem Texteditor und scrollen in die untere Hälfte. Dort tauschen Sie die Lösungswörter nach Belieben aus.

Ein Tipp: Eine Fassung mit Wörtern in Ostschwizertütsch, Züritüütsch, Baseldytsch und Bärndütsch gibt es unter sgwordle.vercel.app. Es gibt eine in Sursilvan (plaidin.ugsagogn.ch), doch andere Schweizer Regionen sind noch ohne eigenes Buchstabenrätsel…

Matthias Schüssler ist Digitalredaktor der SonntagsZeitung.

Quelle: Sonntagszeitung, Sonntag, 19. Juni 2022

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