Schüssler

Eine zukunftsweisende Karten-App

«Strassenadressen sind nicht mehr zeitgemäss». Diese steile Behauptung stammt von den Gründern eines britischen Start-ups, die antreten, sämtliche Methoden, wie wir uns in der Welt orientieren, über Bord zu werfen. Die geografischen Koordinaten werden bei ihrem System ebenfalls überflüssig.

Jede und jeder kennt Situationen, in denen wir uns zu einer Adresse begaben und dann vor einem so grossen Gebäudekomplex standen, dass wir uns fragten, wo sich der Haupteingang befindet. In manchen Gegenden der Welt gibt es, wie von U2 in ihrem Hit von 1987 besungen, Strassen ohne Namen. In einem Blogbeitrag erzählt ein Mitarbeiter der Weltbank, wie er in Kigali in Ruanda jeweils Freunde zu sich nach Hause gelotst hat: «Gehe an der Botschaft vorbei, halte Ausschau nach der Kirche und laufe dann weiter zu dem Haus mit dem schwarzen Tor.»

Nie wieder verfahren. Damit wir jeden Ort der Welt zielsicher ansteuern – und es uns nicht mehr passieren kann, dass wir nach Thalheim ins Aargau fahren, wenn wir nach Thalheim im Züricher Weinland gemusst hätten –, teilt das Start-up What3Words die Welt in ein Raster von Quadraten von drei auf drei Metern ein. 57 Billionen solcher Kästchen gibt es, und jedes wird mit drei Worten beschrieben. Diese werden durch drei Schrägstriche eingeleitet und mittels Punkten abgetrennt. Der Eingang beim Bundeshaus hat die Adresse ///bereitete.passwort.gelb und einer der Büsche auf der Rütliwiese ist unter ///ladegerät.einlud.folgend zu finden.

Die Vorteile liegen auf der Hand. Drei Worte kann man sich leicht merken und in ein Navigationsgerät oder unter what3words.com eintippen. Natürlich gibt es auch eine App (fürs iPhone und für Android), die Ihnen die gesuchte Kachel in einer Karte anzeigt und Sie dorthin navigiert. Die App zeigt Ihnen zur Wegleitung eine Kompass-Ansicht mit Richtungsangabe. Sie können Ihr Ziel jedoch auch mithilfe einer klassischen Karten-App von Google und Apple ansteuern.

Sprachhürden. Fürs Reisen und für ein mehrsprachiges Land ist wichtig, zu wissen, dass Adressen sprachabhängig sind und sich nicht übersetzen lassen. What3Words gibt es in fünfzig Sprachen, wo jeweils die 40’000 häufigsten Wörter benutzt und unabhängig zugewiesen wurden. Es stellt aber keine Hürde dar, wenn man fremdsprachige Adressen eingibt: Die App führt einen trotzdem an den richtigen Ort. Wenn Sie jemandem eine Adresse in dessen Muttersprache angeben möchten, dann stellen Sie auf der Website die Sprache für die Adressen um.

Prognose oder Marketingspruch? Zurück zur Behauptung, Strassenadressen seien nicht mehr zeitgemäss. Ist es denkbar, dass wir uns in ein paar Jahren anhand von Dreiwortadressen durch die Welt bewegen? Es gibt Anzeichen dafür: Lieferdienste, Restaurants und Autohersteller unterstützen What-3Words bereits oder haben entsprechende Pläne.

Ein Problem bleibt. So charmant diese Idee auch sein mag, ein Nachteil besteht darin, dass für uns Nutzerinnen und Nutzer nicht transparent ist, wie die Adressen zugewiesen werden. Adressen lassen sich nicht mit Kompass und Landkarte auflösen. Zwei nebeneinanderliegende Kacheln haben unterschiedliche Adressen. Das ist Absicht, denn der Algorithmus sorgt dafür, dass ähnlich klingende Dreiwortkombinationen geografisch so weit auseinanderliegen, dass ein Fehler auffallen würde. Aber es führt dazu, dass die Navigation nur mithilfe eines Smartphones oder Computers funktioniert.

Navi-Spiel und Geo-Spass. Wie wir uns in Zukunft orientieren, bleibt abzuwarten. Das spielerische Potenzial der Dreiwortadressen ist unbestritten: Organisieren Sie beim nächsten Kindergeburtstag doch eine Schnitzeljagd, bei der die Hinweise in einem Gedicht versteckt sind…

Matthias Schüssler ist Digitalredaktor der SonntagsZeitung.

Quelle: Sonntagszeitung, Sonntag, 22. Mai 2022

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